Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Auf die andere Seite des Tisches abschwenkend, blieb Kerkhoven dicht vor Alexander stehen. »Jetzt begreifen Sie vielleicht,« sagte er; »die Aufgabe wäre eine umfassende Klar- und Darstellung. Nichts was etwa einer Anamnese ähnlich wäre. Um Gotteswillen nicht. Ein Werk, ein richtiges Werk, im Sinne Ihrer Beziehung zur Wirklichkeit. Im Rahmen Ihrer Weltanschauung, Ihrer instinktiven Erfahrung, Ihres sicheren Könnens. Es wäre ein Dokument. Es wäre, für Sie, die einzig mögliche Loslösung. Die Natur, Ihr geistiges Gesetz schreibt es Ihnen vor.« – Alexander Herzog sah mit seinen großen, chokoladebraunen Augen wie gebannt an Kerkhoven empor. »Sie glauben...?« stotterte er, »Sie halten das für... entschuldigen Sie, ich bin im Moment zu verwirrt... der Gedanke ist... jaja, man könnte...« – »Ich habe das Gefühl als sei die Frucht längst reif, und Sie brauchen nur die Hand auszustrecken,« fuhr Kerkhoven fort; »ich zeige Ihnen nur, wo sie hängt und zu pflücken ist. Bedenkt mans recht, so hat Ihnen das Leben ein großes Geschenk gemacht, wie immer Sie schicksalmäßig dazu stehen. Qual und Not und Jammer, darin darf jeder verkommen und ertrinken, wenns ihm über dem Kopf zusammenschlägt, nur Sie nicht. Sie haben die Pflicht, es zu meistern. Und wenns nur das eine wäre: diese Frau, diese Ganna, nach allem, was ich bis jetzt von ihr weiß, scheint sie ja ein beispielloses Menschenwesen zu sein. Eine Figur, wie sie unser Herrgott nicht oft auf zwei Beine stellt. Aber wenn ich Sie jetzt ausfrage, neugierig wie ich bin, und Sie versuchen es, mir den Charakter verständlich zu machen, die und die Eigenschaften aufzuzählen, diese und jene Verrücktheiten und Ungeheuerlichkeiten... ich werde die Person trotzdem nicht sehen, trotzdem nicht begreifen, das Gesicht nicht, die Art nicht. Sie werden schließlich daran verzweifeln und mir sagen: das muß man eben erlebt haben. Richtig. Ich will es erleben. Lassen Sie michs erleben! Muß ich Ihnen, gerade Ihnen, das Wunder und Geheimnis der Gestaltwerdung erklären? Es wäre eine schöne Überheblichkeit. Oder Ihnen sagen, daß es eine andere Erlösung vom Übel wahrscheinlich nicht gibt?« –

Alexander Herzog sprang auf. »Wo haben Sie das her?« fragte er erstaunt. – Kerkhoven lächelte in sich hinein. »Man kommt auf mancherlei Ideen,« sagte er leichthin. – Jetzt war es an Alexander Herzog, aufgeregt längs und quer durch das Zimmer zu marschieren. Die Worte, die er vor sich hin murmelte, klangen zusammenhanglos. »Sonderbar... als wenn ein Engel vom Himmel... daß ich nie daran gedacht habe... alles ist ja fix und fertig da... in zwei Monaten... in vier Wochen... etwas Tolleres läßt sich nicht träumen...« Er sprach wie in einem Rausch. – »Ich darf Ihnen nicht verschweigen,« sagte Kerkhoven in den Tumult hinein, den er in dem Mann aufgerührt hatte, »daß ich den Brief gelesen habe, den Sie an Ihre Frau nach Zürich schrieben. Es ist da von den Bekenntnissen eines Gottlosen die Rede. Bekenntnisse... ja nun... ich habe nicht viel übrig dafür. Es ist meist zu viel Krampf darin, zu viel introvertierte Eitelkeit. Und gottlos? Da finge unser Hauptdisput erst an. Ein Mensch, der Menschen formen kann, oder sagen wir Menschenbilder, ist nicht gottlos. Es ist ein gewaltiger Unterschied zwischen der Traurigkeit der Gottlosen und der Melancholie der Gottsüchtigen. Wenn wir uns wieder treffen, erzähl ich Ihnen mal vom Tode Martin Mordanns. Er starb in meinem Haus. Ja, der!... sein ganzes Leben war das Bekenntnis eines Gottlosen, ungewollt. Und einen traurigeren Tod hab ich nie gesehen. Aber Sie wollten etwas sagen...« – Alexander Herzog hatte Kerkhoven geistesabwesend angestarrt. Offenbar hatte er gar nicht zugehört. »Zu fürchten ist nur,« sprach er grüblerisch, »daß bei einem solchen Unternehmen, es führt ja in alle Abgründe und Höllen des Daseins hinunter, daß da zu viel Verrat geschehen muß... Sie wissen, was ich meine... schonungslose Aufdeckung, erbarmungslose Entblößung. Es gehört ein Mut dazu, der vor nichts zurückschreckt...« – »Gewiß, vor keiner Wahrheit.« – »Wahrheit ist ein Relativum.« – »Was Sie Verrat heißen, ist in jedem Fall abgegolten durch das Leiden. Das heißt, in dem Augenblick, da Sie über das Leidensmaß hinausgehen, gehen Sie über die Wahrheit hinaus. Den Kompaß, den tragen Sie in Ihrer Brust. Sie werden Ihre Instinktbasis nicht verlassen. Sie können es gar nicht, selbst wenn Sie wollten.« – »Das ist ein Trost.« – »Ich denke.« – »Man muß eine Welt aufbauen, Stein für Stein.« – »Ton in des Schöpfers Hand, verehrter Freund.« – »Und wenn ich erlahme?« – »Halte ich für ausgeschlossen. Der erste Schritt wird Sie beflügeln.« – »Es kommen Momente, da einem vor den eigenen Gebilden angst wird. Und wenn ich mein Tun und Sein, meine Irrtümer und Sünden vor mich hinstellen soll, mich, meine hier befindliche Person als wäre sie eine Phantasiefigur... ich habe es bisher noch nie gewagt... die menschliche Scheu und Scham haben mich gehemmt... kann ich mir selbst das wahre Gesicht geben? werde ich mir glauben, daß ich es bin? ich selber? darf ichs sein? darf man sich das leisten?« – »Auch das hängt mit dem Erlittenen zusammen. Es ist eine Frage der Versenkung, scheint mir. Natürlich, ich spreche als Laie. Ihr Auge darf nicht nach außen abirren. Sie stehen sozusagen zwischen Himmel und Erde in einem leeren Raum. Allein mit sich und Ihrem Gott wie Moses auf dem Sinai.« – »Das klingt sehr großartig. Aber vielleicht überschätzen Sie meine Kraft. Vorläufig verhält es sich noch so, daß ich meiner Mittel nicht sicher bin, daß ich nicht weiß, wie ich die Zeit vom Morgen bis zum Abend durchleben soll. Möglich, daß ich mitten auf dem Weg nicht mehr weiter kann. Auf dem Weg zum Sinai.« – »Wenn dieser Fall eintritt, und wahrscheinlich wird er eintreten, schon weil Ihre Situation hier ziemlich gefährdet ist, dann packen Sie Ihre Koffer und kommen ins Haus Seeblick. Es dürfte sich auch in anderer Hinsicht empfehlen. Wir haben mancherlei miteinander auszukochen, glauben Sie mir. Ich habe Ihnen ja gesagt, in fünf bis sechs Wochen werden wir uns wiedersehen. Ich verschaffe Ihnen unbedingte Ruhe. Sie werden unauffindbar sein als ob Sie sich auf eine polynesische Insel zurückgezogen hätten.« – »Fünf bis sechs Wochen... wenn ich wirklich in Fluß komme... wenn der Bann gebrochen ist...« – »Bei Ihrem Tempo,« sagte Kerkhoven lächelnd, »ich könnte mir denken, daß Sie in dieser Zeit eine ganze irdische Komödie zu Papier bringen.« – »Jedenfalls fühle ich, daß Sie mir einen unermeßlichen Dienst geleistet haben, einen ganz unschätzbaren Dienst,« erwiderte Alexander Herzog mit gesenktem Kopf. – »Das ist fein,« sagte Kerkhoven, »nichts hör ich lieber. Daraufhin werden wir einen guten Schlaf tun. Wir haben ihn beide nötig. Gute Nacht, Herr Herzog.«

Er ging auf ihn zu, um ihm die Hand zu reichen, sah ihn aber so in sich versunken, daß er umkehrte und zur Tür schritt. Er hatte diese noch nicht erreicht, als ihm Alexander nacheilte, seine Rechte ergriff und sie länger als eine halbe Minute stumm in seiner eigenen hielt. Dann schieden sie.


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