Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Als er gegen zehn Uhr heimkam, teilte ihm die Wirtin mit, das Fräulein scheine noch immer zu schlafen. »Das ist nicht gut möglich,« murmelte er und ging rasch, voller Vorahnung, ins Wohnzimmer. An das Sofa tretend, erkannte er auf den ersten Blick, was geschehen war. Er packte die regungslos Daliegende an den Schultern, rüttelte sie, drückte das Ohr auf ihre Brust, die Finger auf die Augen, roch an ihrem Mund, es litt keinen Zweifel: Vergiftung, offenbar mit Veronal. Nasenspitze, Hände und Füße waren schon kalt, die Pupille, beim Öffnen der Lider, war nicht größer als ein Stecknadelkopf. Als er den Oberleib hochhob, röchelte sie. Zwei Minuten später hatte er die Magenpumpe eingesetzt und die Wirtin gebeten, unverzüglich ein heißes Bad zu richten. In weiteren zwei Minuten war die Spitalsleitung verständigt, der junge Kollege am Telephon versprach, sogleich mit dem Auto zu kommen. Die Auspumpung, das zweiunddreißiggrädige Bad und die starke Frottierung hatten unmittelbaren Erfolg, Aleid erlangte die Besinnung wieder, doch man konnte sie dann nicht gleich transportieren, da sich heftiges Erbrechen einstellte, das über eine halbe Stunde dauerte. Kerkhoven machte noch einen Aderlaß, endlich konnte man sie in Tücher wickeln und in den Wagen schaffen. Kerkhoven fuhr mit. Er blieb bis ein Uhr nachts im Spital, und als er nachhause ging, hatte er die Beruhigung gewonnen, daß das unglückliche Kind gerettet war.

Er fiel sofort in tiefen Schlaf. Nach einer Stunde erwachte er ruckartig, unter einem heftigen Choc und mit einer sonderbaren gläsernen Klarheit im Kopf. Er bemerkte zu seiner Verwunderung, daß er von den Füßen bis zum Hals in Schweiß förmlich gebadet war. Als er die Hand auf seine Brust legte, zog er sie naß wie in warmes Wasser getaucht zurück. Er erhob sich, machte Licht, streifte den Schlafanzug ab, nahm ein Tuch und rieb sich trocken. Bei dieser Hantierung stand er vor dem Spiegel und gewahrte zwei matte braune Flecken in seinem Gesicht, schräg von den Augen abwärts je einen. Kopfschüttelnd ging er zum Bett zurück, da hatte er auf einmal das Gefühl als seien seine Schenkelknochen hohl. Es war ein unangenehmes bleiernes Ziehen. Einen halben Schritt vor dem Bett brach er in die Kniee. Er schaute erstaunt an sich herab, etwa wie ein Reiter das Pferd betrachtet, auf das er sich lange Zeit sorglos verlassen hat und das plötzlich unter ihm zusammenstürzt. Nur mit Mühe gelang es ihm, wieder ins Bett zu kriechen; er legte sich an den Rand, wo das Linnen trocken geblieben war, und verspürte alsbald von den Beinen aus ein Ameisenlaufen über Bauch und Brust, zugleich einen eisigen Kälteschauer im Nacken und ein Flimmern vor den Augen.

Dies alles beobachtete er ohne zu erschrecken. Mit einem kleinen gespannten Lächeln lauschte er in seinen Körper hinein. Er befühlte den Puls; etwas dünn, dachte er, etwas fadig. Was geschah? was war los? Hatte er sich bereits da drinnen einquartiert, der Tod? gleich einem verpuppt gewesenen Insekt, das ausgekrochen ist; einer Motte, die im Futter eines Anzugs überwintert hat; eines Tages nimmt man mit Verdruß das Loch wahr, das sie in den Stoff gefressen. Doch ein Insekt, eine Motte, das sind schon Giganten; ein unendlich viel winzigeres Ding treibt hier sein Zerstörungswerk. Oder ist es nicht vielmehr ein planvoller Aufbau? der mikroskopisch kleine Architekt, zielbewußt in seinen Maßnahmen, holt sein Material aus dem Verbrauchten, den Aschenresten des göttlichen Lebens, die er geduldig sammelt und aufspeichert, um in unermüdlicher Arbeit an Stelle jeder Lebenszelle eine Todeszelle zu setzen, bis er, parasitisch und herrschsüchtig, die großartige Kathedrale aus Blut und Eiweiß, Phosphor und Stickstoff zum Einsturz bringt. Ein Vorgang, so logisch wie Geburt, und ebenso unerfahrbar. Der Tod ist unerfahrbar. Ein Bild, eine Vorstellung, eine Idee, eine Furcht, alles das, aber eine Wirklichkeit kann der Tod nicht werden.


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