Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Mit Bettina ist es so, daß sie lange Zeit gebraucht hat, um sich zu sammeln. Das Erlebte hinter sich zu werfen und einen Strich darunter zu machen, das hat sie keinen Entschluß gekostet, es entspricht ihrem Wesen und Temperament, doch der Lärm braust ihr noch in den Ohren, der häßliche, wüste Lärm um Geld und Haus, die Erinnerung an das Grauen saß noch in den Nerven, und anfangs hat sie viel Mühe aufwenden müssen, sich so munter und regsam zu geben wie sie glaubte, daß man es von ihr erwartete. Denn das Recht auf diese Erwartung räumt sie jedem ein, in dessen Gesellschaft sie sich befindet. Nie hat sie jemand traurig gesehen, sie hängt ihre Schmerzen nicht ins Fenster. Sie muß viel liegen, viel schlafen, sie hat viel Schlaf nachzuholen, sie wäre manchmal restlos zufrieden, wenn ihr das Klima bekömmlicher wäre, sie ist an stärkere Luft gewöhnt, die hier ist ihr zu schlapp. Doch beglückt sie der Garten, die Rosenblüte, die Weite des Himmels, an klaren Tagen schimmern die Gipfelketten der Hochalpen traumhaft in der Bläue, sie sitzt mit einem Buch am See, die Stille wird nur durch das leise Plätschern des Wassers gestört, bisweilen hebt sie den Blick und schaut dem lautlosen Flug der Möwen zu oder späht über die leichtbewegte Fläche, die die Unendlichkeit des Meeres vortäuscht.

Alles Leben rückt nach innen zusammen, da sie es so lange nach außen vergeudet hat. Wirklich entspannt ist sie nur, wenn der Tag ohne praktische Forderungen vor ihr liegt, ein fast krankhafter Abscheu vor Geschäften und Nutzverrichtungen ist ihr geblieben, sogar wenn sie an ihre zärtlich geliebten Töchter schreiben soll, ist es eine Beschwer. Das Verlangen des Eremiten erfüllt sie, der die Welt vergessen und sein eigenes Inneres erforschen will, alles andere wehrt sie von sich ab, deshalb flößt ihr auch der glühende Eifer, mit dem sich Marie ihrer neuen Aufgabe widmet, etwas wie Angst ein, obgleich sie die Freundin dabei aufs innigste bewundert. Sie kann sich aber dem tätigen Anteil nicht ganz entziehen, sie darf nicht die müßige Zuschauerin spielen, sie schließt sich zwei- oder dreimal bei den Wanderungen an, besorgt den Einkauf von Proviant, liest den Kindern Märchen vor, und als ihr Marie eines Tages die alten Verse hersagt, die ihr in all den Jahren insgeheim als Leitspruch gedient haben: Ich bin in der finstern Welt / eine unentzundene Kerz / sei still, streitsüchtig Herz / ich weiß ja, wer mich hält / da setzt Bettina die Strophen in Musik, und die einfache, kanonartige Melodie, die sie dazu findet, wird alsbald von den Waldläufern, so nennt sich die ganze Kindergruppe, mit Vorliebe gesungen. Doch obschon sie keineswegs mit Unlust bei der Sache ist und ihr Marie von Tag zu Tag teurer wird, fühlt sie sich erst wieder wohl, wenn sie allein sein kann oder bei einem Zwiegespräch mit Kerkhoven oder am Abend im Refektorium, denn die Stunden dort oben werden von Mal zu Mal bedeutungsvoller für sie; was sie dabei erfährt und erlebt, wird zum unvergeßlichen Eindruck, oft ist ihr die Kehle wie versperrt und ihr schwindelt förmlich, vor Glück, vor Qual, was weiß ich, wobei auch die Qual halbes Entzücken ist, die andere Hälfte ist Bedauern darüber, daß man selber so stumm ist oder furchtsames Staunen, wenn die Dinge, mit denen man ein Leben lang schmerzlich gerungen hat, sehr verhalten und verborgen freilich, sehr im Schweigen begraben, so überraschend wahr und sichtbar ans Licht treten.

Sie ist unter den vier Menschen sowohl die leidenschaftlichste wie auch die gottessehnsüchtigste Natur. Hoher Anspruch an das Leben, der höchste an Liebe und Freundschaft; brennende Klarheit des Denkens verbunden mit ungeduldiger Selbstungenügsamkeit; beständiges Suchen nach Aufschluß, Erkenntnis, Entfaltung, Belehrung, nach reinem Bild und reinem Ton, wie ihn die Musik ihr gibt; Ringen mit einem allzu schwachen Körper, dem Körper der Frau, der immer versagt, wo der letzte Einsatz ins Spiel zu werfen ist; Verzweiflung an einer Welt, die ihr keine Hoffnung auf einen Platz für ein Wesen ihresgleichen mehr läßt und die so verschieden von der Welt ihrer Jugend ist wie eine zerfetzte Leinwand von einem heitern Gemälde; die Existenz an der Seite eines Mannes schließlich, der sie anbetet, ohne sie zu kennen und so viel Raum zum Atmen braucht, daß sie froh sein muß, wenn sie sich in einen Winkel verkriechen kann: das alles hat jenen Hunger, von dem wir gesprochen haben, übermächtig werden lassen, so daß ihre Seele völlig verdorrt und abgemattet davon ist und ihr vor den Attrappen widert, mit denen sie sich allzulang genährt hat, vor den brüchigen Gefühlen, den folgenlosen Worten, den anfechtbaren Thesen. Es ist das Lebendige, wonach sie begehrt, was angeschaut werden kann und was ergreift. Und es muß ihrem Urteil standhalten. Und sie muß sich an ihm messen können.

Damit ist schon in den Grundzügen ihr Verhältnis zu Joseph Kerkhoven gegeben.


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