Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Nur die inständigen Bitten Maries hatten Kerkhoven bewogen, Lili Meeven aufzunehmen. Sie war eine Nichte von Frau de Ruyters und mit einem Amsterdamer Edelsteinhändler verheiratet. Frau de Ruyters hatte an Marie einen ausführlichen Brief geschrieben. Der dortige Nervenarzt hatte der Familie empfohlen, die Kranke zu Kerkhoven zu schicken; in Holland hatte Kerkhoven einen Ruf wie nirgends sonst, auch unter Fachkollegen. Man sprach dort von ihm wie von einem Apostel. Er hatte sich zuerst geweigert, die Behandlung zu übernehmen, zumal sich ein klares Krankheitsbild aus dem Brief nicht erkennen ließ. Er war in diesen Tagen seiner selbst nicht sicher. Seine wissenschaftliche Neugier war erloschen. Nach neuen Erfahrungen hatte er kein Verlangen. Alle sogenannte Heilung wurde immer fragwürdiger. Da hatte er nun diese Mannheimer Schauspielerin, die Kokainistin, mit opfervoller Bemühung von ihrer Leibes- und Geistesvergiftung befreit. Zu welchem Ende? Damit sie wieder in schlechten Stücken auftreten konnte, um in einem Jahr rückfällig zu werden? Das Gift hatte er ihr entziehen können, das tiefgewurzelte Bewußtsein von der Hohlheit ihres Daseins hatte er ihr nicht wegnehmen können. Und daran lags. Es gibt Heilungen, bei denen die Krankheit nur einen Leichnam zurückläßt, und der Arzt hat nichts getan als daß er die Gesellschaft lebender Gespenster um einen wandelnden Toten bereichert hat. Trotzalledem konnte keine einzige Seele, die verworfenste, die unnützeste nicht, mit ihrem lechzenden Anspruch auf Leben abgewiesen werden; der Arzt, der sich dessen unterfing, vergriff sich an den göttlichen Richtmaßen. In diesem Widerstreit wäre Kerkhoven zugrunde gegangen, hätte er nicht schon die Wegscheide überschritten gehabt, an der das Problem von Leben und Tod für ihn wesenlos geworden war.

So erklärte er sich also bereit, es mit Lili Meeven zu versuchen. Er bereute den Entschluß nicht. Es war ein anderes Interesse als das rein ärztliche, das sie in ihm erweckte. Hier wiederholte sich am lebendigen Objekt, was er an einer gespiegelten Figur erfahren hatte, also wirklich und augenfällig, nicht bildlich und mittelbar. Und so kam er auf den seltsamen Gedanken einer seelischen Homöopathie. Alexander Herzog konnte nicht im Zweifel sein über das Doppelgänger-Phänomen, das ihm hier gegenüberstand. Es war die Probe zu machen, ob die »Vernichtigung« gelungen war oder ob noch unaufgelöste Reste des zerstörenden Erlebnisses als Trauma vorhanden waren. Es ging nicht nur um Alexander allein, es ging auch um Bettina, denn gebieterischer für sie als für ihn stellte sich an diesem Punkt die Frage nach Sein oder Nichtsein ihrer Ehe; Entfaltung oder Untergang ihrer Person.


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