Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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13

Der letzte Oktobertag. Sie hatten den Nachmittag im Freien verbracht, am Abend, nach dem Essen, sagte Kerkhoven: »Ich muß über etwas Bestimmtes mit dir sprechen.« – Marie sah ihn erwartungsvoll an. – »Du hast dich wahrscheinlich gewundert, daß ich meine ganze gewohnte Arbeit aufgesteckt habe,« sagte er und korrigierte sich, als Marie den Kopf schüttelte, »na vielleicht nicht, vielleicht warst du froh darüber, aber du hättest dich doch wundern müssen.« – »Schön, nimm an, ich hätte mich gewundert.« – Er schaute blinzelnd in die Höhe, den Kopf schräg, wie ein Vogel. »Es wäre eben in keinen Fall länger gegangen. Das Stück war abgespielt. Ich habe immer deutlicher gespürt, daß ich in den Leerlauf gerate.« – »Was nennst du Leerlauf? Man hört das Wort jetzt so oft, aber was war es bei dir?« – »Das Mißverhältnis zwischen dem Wirkungsfeld und der inneren Dynamik.« – Marie wurde immer aufmerksamer. »Ich verstehe... innere Dynamik... du meinst, was im Widerspruch zum Praktischen steht, zu den praktischen Aufgaben?« – »Ja, zum Betrieb ganz einfach. Man verfällt der Wiederholung des Gleichartigen. Eine unendliche Reihe ohne Summe. Selbstwiederholung. Jede Handfertigkeit, jede Geistfertigkeit läuft auf Selbstwiederholung hinaus.« – »Gut, aber anders kann man doch nicht in die Breite wirken, und du willst doch in die Breite wirken.« – »Ich weiß nicht. Früher vielleicht wollte ich es. In die Breite wirken heißt darauf verzichten, in die Höhe und in die Tiefe zu wirken. Es ist das große Problem heute. Wir kämpfen sozusagen um eine neue Dimension. Beim Ausbau der alten haben wir das Edelmetall des Lebens zugesetzt und nichts dafür hereinbekommen als wertlose Schlacken.« – »Was willst du aber tun?« – »Schluß machen. Von vorn anfangen. Umkehren und den Punkt suchen, wo man in die falsche Bahn eingebogen ist.« Er sagte das alles scharf betont und auffallend hastig. – »Ich kann mir noch nichts Greifbares darunter vorstellen,« gestand Marie zögernd. – »Paß auf, und erschrick nicht über das, was ich dir jetzt sage, Marie,« er nahm ihre Hand zwischen seine beiden; »man muß die Praxis für eine Weile an den Nagel hängen. Mit allem Bisherigen brechen. Man darf nicht vom Beruf leben wollen, wenn man nicht mehr die Überzeugung hat, daß man ihn so restlos ausfüllt wie ein Körper seine Haut. Man muß der Herr des Metiers sein, nicht sein Knecht, nicht sein Hund. Das ist alles so einfach wie wenn du guten Tag sagst; sieht man näher zu, so ist es eine Frage auf Leben und Tod.« – Marie blickte so heftig interessiert in sein Gesicht als wolle sie eine Geheimschrift entziffern. »Es wäre ja nicht das erstemal, daß du alles über den Haufen wirfst,« bemerkte sie nachdenklich; »schon vor fünfzehn Jahren hast du es getan. Nicht zu deinem Schaden. Es ist offenbar dein Gesetz.« – Er nickte. »Auch damals ist es im Zusammenhang mit dir geschehen. Das gibt zu denken... Machst du dir auch klar, was ein solcher Entschluß von uns fordert?« – »Ich glaube, ja.« – »Wir haben in den letzten Jahren gelebt wie Börsenspekulanten.« – »Ich bin zu allem bereit, Joseph. Ich bin keine Henne, die um den Brutplatz zittert.« – »Das sagt sich so leicht... überlege einen Augenblick... du hast gewisse Neigungen... liebst es, dich elegant zu kleiden, hast dich an die Sorglosigkeit im Geldausgeben gewöhnt.« – »Ich bin nicht davon abhängig, Joseph. Ich kann mich jeden Tag umstellen. Es muß nur etwas da sein, wofür ich es tue, und offengestanden: ich warte darauf.« – »Schön. Wir müssen Lindow verkaufen. Das Haus in Berlin verkaufen. Die Anstalt abgeben. Was vom Erlös bleibt, nach Tilgung aller Verpflichtungen, muß erstens verwendet werden, um dich und die Kinder vor Mangel zu schützen; ich selber bringe mich durch, wie, das gehört in einen anderen Teil unserer Unterhaltung, und zweitens schwebt mir seit langer Zeit ein Projekt vor, über das ich aber jetzt nicht reden möchte. Nur damit du ungefähr im Bild bist... es handelt sich um die Errichtung einer Heilstätte, wie ich sie mir träume, im kleinsten Stil vorläufig, irgendwo im deutschen Süden... Aber bis dahin hat es jedenfalls gute Wege.« – »Warum?« fragte Marie, »warum es aufschieben?« – »Weil...« er stockte; »ich habe eine weitläufige Arbeit vor. Ich habe dir davon erzählt. Ein Buch über den Wahn.« – Sie warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Das ist nicht der wirkliche Grund, Joseph. Du verbirgst etwas.« – »Stimmt. Aber ich weiß nicht, Marie, weiß nicht, ob du... es ist das Schwerste von allem, was ich dir zu sagen habe.«

Ein leichter Schauer lief über Maries Schultern. Sie ahnte es. Sie mochte ihn aber nicht bedrängen. Sie ließ kein Auge von ihm. Seine Haltung, der leicht zurückgelehnte Oberkörper, das mächtige Haupt ruhig dem Licht zugekehrt, das machte plötzlich einen großen Eindruck auf sie. Prachtvoll sieht er aus, mußte sie denken. Keine innere Besetztheit, keine andersgerichtete Beschäftigung konnte sie verhindern, das Sinnfällige wahrzunehmen und vom Standpunkt der Schönheit aus zu beurteilen. Diejenigen, die sie nicht genau kannten, nahmen bisweilen sogar Anstoß daran und nannten sie eine hoffnungslose Ästhetin.


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