Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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»Ich hätte gern noch ein paar Worte mit Ihnen gesprochen,« sagte Herzog, als sie im unteren Flur angelangt waren, »es lastet mir was auf der Brust, und ich möchte es Ihnen beichten.« – »Gut, gehen wir ins kleine Sprechzimmer dort hinten,« erwiderte Kerkhoven, »da sind wir ungestört.«

Sie traten in ein längliches, aufs Sparsamste möbliertes Gemach, Kerkhoven drehte das Licht auf, setzte sich an den Tisch und lud Alexander durch eine Geberde gleichfalls zum Sitzen ein. »Es ist das...« begann Alexander Herzog und strich sich nervös über die Stirn und die Haare, »nicht leicht, darüber zu reden... es ist wie Schaum, wie ein Schatten, der übern Weg rinnt... und doch, es drückt einen nieder, macht einen gemein... ein Leben lang hat man einer Idee von sittlicher Wandlung gedient, auf einmal entlarvt einen das Schicksal als heimlichen Verbrecher... und nach diesem Abend, da ich so manches klarer sehe und erkenne...« – Kerkhoven begriff. Es war als hätte er Alexander Herzogs Gedanken gelesen. »Sie brauchen kein Wort weiter darüber zu verlieren,« sagte er, indem er seine gewohnte Haltung einnahm, den Rumpf nach vorn geneigt, die flach zusammengelegten Hände zwischen den Knien; »ich weiß. Ich weiß alles. Darf ich Ihnen etwas Analoges aus meinem eigenen Leben erzählen? Vielleicht gibt es Ihnen eine Richtlinie. Vor zwei Jahren befand ich mich in einer schweren Krise. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre draufgegangen. Die ganze Existenz stand auf der Messerschneide. Ich hatte damals einen jungen Freund, halb Schüler, halb Sohn, ich hatte ihn aus dem dicksten Morast gezogen, ich hatte ihn gewissermaßen zu einem neuen Menschen gemacht. Es ließ sich Großes von ihm erwarten, ein spezifisch heutiger Typ, ich hielt ihn für erprobt, ich hätte Berge auf ihn gebaut. Er hat mich verraten. Hat mich ganz schmählich hintergangen und mein Vertrauen mißbraucht. Die näheren Umstände will ich aus dem Spiel lassen, kurzum, es kam so weit mit mir, daß ich das Gefühl hatte, er und ich hätten auf demselben Planeten keinen Platz. Es gab Tage, da ich nichts anderes dachte und träumte als ihn zu vertilgen wie man ein Ungeziefer vertilgt. Sie sehen, auch ich... Aber er war geflohen, hatte sich vor mir in Sicherheit gebracht. Ich machte mich an seine Verfolgung. Der erste rasende Zorn hatte sich abgekühlt, ich wollte ihn nur stellen, wollte sein schuldiges Antlitz vor mir sehen. Eine wunderliche Begierde, wie? Item, es war so. Nun hatte ich auf irgendeine Weise den Aufenthalt seiner Mutter erfahren, die ich nicht persönlich kannte; ich wußte nur von ihr, als einer Frau, die durch ein tragisches Geschick dahin gelangt war, sich vollständig von Welt und Menschen abzusondern; die ist wirklich und tatsächlich in die Wüste gegangen, und in der Wüste hat sie auch ihren Gott gefunden. Ich reiste in die Stadt, wo sie wohnte. Man wies mich zu dem Haus. Der Sohn war nicht mehr bei ihr. Sie hatten den Winter über zusammen in der Einöde gelebt, jetzt war er fort, und sie war in die Stadt gezogen, das Haus stand in derselben Gasse wie der Dom. Ich kann nicht erklären, warum es mich mit aller Gewalt in die Nähe der Frau trieb, trotzdem ich doch wußte, der junge Mensch war nicht mehr da. Ich habe es oft zu ergründen versucht; ich weiß es nicht. Vielleicht war es bloß die mystische Vorstellung: Mutter. Vielleicht hoffte ich auf eine stumme Botschaft, eine nur für mich verständliche Übermittlung. Eines frühen Morgens, es war der Tag, an dem ich sie aufsuchen wollte, sah ich sie in die Kirche gehen, unvergeßlich ihr Gang, ihr Dahinschreiten; ich folgte ihr unbemerkt. Ich trat in die Kirche und sah sie vor dem Altar knien. Nichts sonst. Und eine Stunde später reiste ich ab. Mich verlangte nicht mehr nach der Begegnung mit dem Menschen. In mir war Frieden eingekehrt.« – »Weil Sie sie knien gesehn hatten?« fragte Alexander Herzog mit großen Augen. – »Weil ich sie knien und beten gesehn hatte, ja.« – »Was hatte daran solchen Eindruck auf Sie gemacht?« – »Kann ich nicht sagen. Alles. Es hat meine Lebensauffassung verändert. Es geschieht selten, daß man einen Menschen in der ihm wesensgemäßen Situation erlebt. Es geschieht noch seltener, daß diese Situation zugleich den Gipfel veranschaulicht, den ein Mensch überhaupt erreichen kann, in diesem Fall die Hingabe, die Versenkung, die Andacht. Und es geschieht am allerseltensten, daß ein solches Ereignis mit der inneren Bereitschaft eines Andern zusammenfällt.« – »Welcher Bereitschaft?« drängte Alexander unruhig gespannt, »welcher Bereitschaft?« – »Der Bereitschaft zu glauben.« – Alexander sah erstaunt und verlegen zu Boden, so erstaunt und verlegen, daß Kerkhoven ein Lächeln nicht unterdrücken konnte. »Das führt allerdings weit,« sagte er und erhob sich, »weit, weit, weit.« – »Verzeihen Sie, Joseph Kerkhoven,« stotterte Alexander, gleichfalls aufstehend, »ich bin etwas vor den Kopf geschlagen.« – »Nun, bewahren Sie es als Geheimnis in Ihrer Brust,« sagte Kerkhoven mit eigentümlichem Sarkasmus. – Und Alexander darauf, grüblerisch: »Nur weil sie gebetet hat? Nur deswegen? Rätselhaft.« – »Ein Wort, mein Lieber, ein grenzenloses Wort: beten,« erwiderte Kerkhoven achselzuckend, »es kann alles mögliche bedeuten. Ich hab so meine besonderen Gedanken darüber... Ja, meine ganz besondern Gedanken. Aber entschuldigen Sie mich, der Tag war lang, ich bin nicht sehr gesprächsfähig, es kommt jetzt oft so plötzlich über mich...« Er ließ Alexander vorausgehen, drückte ihm draußen fest die Hand und eilte gegen die Treppe. Alexander schaute ihm nach bis er verschwunden war.


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