Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

77

Es verhielt sich tatsächlich so, daß niemand im Hause Alexander Herzog hatte fortgehen sehen. Es war daher auch nicht zu ergründen, in welche Richtung er gegangen war. Als am Mittwoch die Zeitungen die Nachricht von seinem rätselhaften Verschwinden brachten, meldeten sich verschiedene Personen, die ihn da und dort bemerkt und erkannt haben wollten. Der Umstand, daß er nur den Rucksack mitgenommen hatte, ließ die Befürchtung entstehen, er sei in den Bergen verunglückt; aber alle Nachforschungen waren vergeblich.

Er selbst erinnerte sich später nicht mehr, ob ihm ein bestimmtes Ziel vorgeschwebt hatte. Zum Bahnhof ging er ganz mechanisch und setzte sich in den ersten einfahrenden Zug. Um zehn Uhr abends stieg er um und fuhr mit einem andern Zug weiter. Um Mitternacht rüttelte ihn der Schaffner wach, denn er war eingedämmert. Er stieg aus, fand sich in einem größeren Ort und übernachtete in einem Bauernwirtshaus. Am Morgen hatte er so heftige Kopfschmerzen, daß er im Bett blieb und erst am Nachmittag das Gasthaus verließ. Er ging auf die Station, um mit der Bahn weiterzufahren, änderte aber dann seinen Entschluß und marschierte vierzehn Kilometer auf der Landstraße bis zum nächsten Marktflecken. Dort suchte er wieder ein Wirtshaus auf. Die Angaben, die er nach seiner Auffindung über die ersten Tage seines planlosen Herumirrens machte, waren alle ziemlich unsicher; offenbar waren nur vorüberhuschende Bilder und Eindrücke in seinem Gedächtnis haften geblieben.

So hatte er beim Marschieren manchmal das unangenehme Gefühl als sei er doppelt. Er ging neben sich selber her und philosophierte mürrisch über sein unverständliches Tun. Eine wiederkehrende, obschon dumpfe und undeutliche Überlegung war die, daß es möglich sein müsse, lebendigen Leibes aus der Welt herauszukommen. Es wurde zur Zwangsidee, dieses »heraus aus der Welt«. Jedenfalls war es ein beschwerlicher und undramatischer Weg; mit dem Wandern war es auch nicht mehr wie einst. Zuweilen fiel ihn die Müdigkeit an wie ein Schlag mit dem Hammer. Er beklagte den Verlust seiner Spannkraft. Ich habe zu viel geschleppt, sagte er sich, ich habe zu viel Leben verpulvert; man meint, es sei noch Vorrat im Speicher, schaut man aber nach, ist nichts mehr da.

Der Marsch durch ein einsames, endloses Tal bei Regen verursachte ihm besondere Mühe. Einmal warf er sich ins nasse Moos, Rücken und Füße schmerzten. Da fragte er sich, was er vorhabe, wo er hinwolle. Eine öde steinige Lichtung breitete sich um ihn, der Nebel hing bis zum Boden. Er fand sich dem König Lear auf der Heide nicht unähnlich. Fehlte nur der Narr, fehlte auch Cordelia. Die Cordelia hatte er verloren; der Narr folgte ihm als Schatten; aber es war ein tödlicher Narr, der bitterste aller Narren, der beständig hinter ihm her schrie mit einer hohlen, tobenden, fordernden Stimme. Der Gannastimme.

Auch dies Bild grub sich ein: wie er einen abgeholzten Hang erklomm und der Sack auf seinem Rücken steinschwer wurde; geschälte Stämme glänzten in der Nässe wie Goldbarren; eine verfallene Sägemühle in einer Mulde; er zwängte sich in den Verschlag neben dem zermorschten Wasserrad, drückte sich in einen Winkel, schob den Rucksack unter den Kopf und fiel in einen zwölfstündigen Erschöpfungsschlaf.

Irgendwo, irgendwann fuhr er ein paar Stunden mit dem Autobus. Unterhielt sich mit Bauern, mit einem jungen Lehrer, mit einem Eisenbahnarbeiter. Der Lehrer hatte ihm gefallen; ein ernster, denkender Mensch. Als er wieder allein war, wurde ihm eine Szene gegenwärtig, die er vor Monaten in einer deutschen Stadt erlebt hatte. Nach einer Ansprache, die er gehalten, hatten sich achtzig bis hundert junge Leute um ihn versammelt und ihn mit unzähligen Fragen bestürmt, deren Beantwortung lebenswichtig für sie war. Er sah noch die dringlichen Augen, die erglühten Mienen, die hellen Gesichter... Unfaßlich, daß sie ihn, gerade ihn erwählt hatten als Berater und Wegweiser, ihn, der nun ausgegangen war, sein Selbst zu suchen.

Den Tag über hatte er in der Hütte eines Holzfällers gerastet und sich am Abend plötzlich zum Aufbruch entschlossen. Die Helligkeit über den Bergen hatte ihn verlockt. Perlgrau schimmernde Monddämmerung lag über der Stille. Fast gierig stieg er in die Höhe, die Nebel blieben unten, er trat in die obere Nacht wie in einen blauen Dom. Ein Ziegenpfad wand sich über die Felsen. Er folgte ihm stundenlang, der Mond hing wie eine gelbflammende Frucht am Himmel, jeder Grashalm warf scharfen Schatten. Auf einmal war der Pfad verschwunden. Er suchte ihn bis es Tag wurde. Mit dem Tag zog das Gewölk herein, man ging hundert Schritte und war wieder an der nämlichen Stelle, wo man vor hundert Schritten gewesen. Etwas Dunkles ragte auf: die Felswand? der Nebelkern? eine Gestalt? sein Selbst? Wenn es sein Selbst war, konnte es ihm endlich erklären, warum er bis an die Schwelle des Alters außerhalb von sich gelebt hatte, ohne Bruder, ohne Freund, ohne Cordelia; ihm erklären, warum eine Ganna wider ihn aufstehn mußte, um dem heiligen Wahn, dem er gedient, denn schließlich war es ein heiliger Wahn, das Zerr- und Widerbild entgegenzuhalten in fesselloser Gottlosigkeit. Er bedurfte der Erklärung, der Erleuchtung, einer wenn auch noch so geringen Gnade bedurfte er, eines Strahls von oben, einer Deutung, eines Sinns...

War es erlaubt, umzukehren, wenn man solches erwartete? Er keuchte tiefer ins Felsige hinein, schlüpfte in die wolligen Nebel, taumelte über die Schneehalden, verspürte Durst, stopfte eine Handvoll Schnee in den Mund, schaute auf die Uhr: die Uhr war stehen geblieben. Unheilvolles Zeichen für einen Mann, der sozusagen mit der Uhr in der Hand gelebt hatte, dem jede vergangene Stunde als Gewissenszeugin dienen mußte. Er wandte sich rechts, wandte sich links, ein Rudel Gemsen hüpfte geisterhaft über einen Grat, sein Herz begann wild zu pochen, die Einsamkeit ertönte wie eine gewaltige Glocke: nicht umkehren! nicht umkehren!

Und er kehrte nicht um.

Gegen Abend fanden ihn zwei Jäger bewußtlos im Zwergholz und trugen ihn auf gekreuzten Ästen zu Tal. Da er sich weigerte, Auskunft über sich zu geben, auch keine Papiere bei sich hatte, brachte man ihn in das nächste Bezirkskrankenhaus.


 << zurück weiter >>