Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Sie befanden sich im Mittelzimmer des Pavillons, das als Wohn- und Schreibzimmer diente. Auf dem runden Tisch zwischen ihnen stand noch das Teegeschirr. Sie hatten vor zwei Stunden Tee getrunken. Kerkhoven hatte seitdem seine Haltung kaum verändert. Er saß in der Sofaecke, den Kopf auf den Arm gestützt, in der rechten Hand hielt er eine Nuß, die er angelegentlich betrachtete. Trotz der Septemberkühle war das eine Fenster offen; durch das gilbende Laub einer Kastanie loderte der Feuerball der untergehenden Sonne.

»Ohne Gestalt kann man nicht Christ sein,« sagte Bettina leise. – »Muß man Christ sein?« versetzte Kerkhoven achselzuckend. – »Ich sehe keine andere Erfüllung,« erwiderte Bettina, »wenigstens was das Opfer und was die Gnade betrifft.« – »Das ist vielleicht wahr,« sagte Kerkhoven, »aber auf dem Weg von der Menschwerdung zur Gottwerdung gibt es keine Nachfolge. Schon die Menschwerdung ist ein Prozeß, der in zweitausend Jahren nicht einmal begonnen, geschweige denn vollendet werden konnte.« – »Handelt es sich denn um die Nachfolge?« – »Ausdrücklich handelt es sich darum.« – »Nicht eher um die Liebe und die Barmherzigkeit?« – »Die sind in der Nachfolge drin, sie können aber nicht verwirklicht werden. Der Weg ist zu weit.« – »Ist der Ihrige kürzer?« – »Religiöser Glaube ist eine Angelegenheit von wenigen Auserwählten.« – »Dann auch der christliche.« – »Ja, aber die zwei Jahrtausende haben ihn ausgekältet.« – »Kann man ihn nicht wieder zum Glühen bringen?« – »Nicht genug, um das Material zu verarbeiten. Es hat sich zu viel neues Material angesammelt. Seit Generationen.« – »In jedem Auserwählten glüht Jesus Christus. Auch in Ihnen,« sagte Bettina. Darauf schwieg Kerkhoven, und Bettina fand keinen Grund, das Schweigen zu brechen. Aus der Mansarde oben schallte bisweilen das silberne Gelächter des kleinen Helmut, der mit Robert und Johann »Dampfschiff« spielte.

Da betrat Alexander Herzog das Zimmer nebenan. Er wußte, daß Kerkhoven bei Bettina war, diese hatte es ihm gesagt. Aus der Art ihrer Mitteilung hatte er entnommen, daß sie mit dem Freund allein sein wollte. Deshalb war er weggegangen und hatte Marie zu einer Bootfahrt abgeholt. Es war nun dreiviertelsechs; er dachte, er dürfe sich wieder zeigen. Er trug Gummisohlen an den Schuhen, seine Schritte waren lautlos. Um auf keinen Fall zu stören, hatte er beim Eintreten die Tür unhörbar auf- und zugemacht. Doch um ganz genau zu sein, war es so: einerseits wollte er wirklich nicht »stören«, andrerseits hätte er in seiner durch nichts zu stillenden Eifersuchtsverranntheit gern etwas von der Unterhaltung erlauscht, die zwischen den beiden im Gange war. Ein paar Worte nur; die Tonlage; die Stimmfarbe; das konnte manches verraten. Jedoch sie schwiegen. Er stand da, die Tür war nur angelehnt (immerhin entlastend, schoß es ihm verrückterweise durch den Kopf), und kein Laut unterbrach das rätselhafte Schweigen, außer jene kaum merklichen kleinen Geräusche, die die Anwesenheit von Menschen anzeigen, ein tiefer Atemzug etwa, das Rascheln eines Kleides, das Scharren eines Fußes. Hätte er den Anlaß dieses Schweigens geahnt, seine Beschämung wäre so groß gewesen wie jetzt seine unnatürliche und unschickliche Pein; so aber sagte er sich, nur eine intime und schon bewährte Vertrautheit zwischen einem Mann und einer Frau könne ein Schweigen wie das hervorbringen, dessen Zeuge er war und das ihm in die Ohren donnerte als stürze sein Leben zusammen. Bei einer unwillkürlichen Bewegung oder doch einer, die er nicht beherrschen konnte und die er ausführte, weil er sonst kein Mittel sah, der quälenden Situation ein Ende zu machen, stieß er an einen Stuhl; da rief Bettina, die schon minutenlang das Gefühl seiner Gegenwart gehabt hatte, seinen Namen. In ihrer Stimme war keine Befangenheit oder Überraschung ; das beruhigte ihn einigermaßen, aber als er auf die Schwelle trat, sah er aus wie eine Leiche und wie gewöhnlich war alles, was in ihm vorging, in seinen Augen zu lesen. Auch Bettina verfärbte sich. Zorn, Scham, Bitterkeit kämpften in ihren Mienen. Als er ihrem Blick begegnete, lächelte er hilflos und beugte den Nacken. Kerkhoven hatte sich langsam erhoben. Er schaute Bettina an, schaute Alexander an; ein schnelles Zusammenziehen der Brauen: er wußte. Er verbarg sein tiefes Erstaunen, ging zum Fenster und schloß es mechanisch. Während er stumm in den Garten sah, verließ Bettina das Zimmer und ging zu den spielenden Buben hinauf.


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