Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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»Finden Sie nicht, daß es ein wenig unter der Würde ist?« begann Kerkhoven, ohne sich umzudrehen, »kann es da Erklärungen geben?« – Alexander, noch immer an den Pfosten der Tür gelehnt, durch die er eingetreten war, schwieg. – »Es ist schmerzlich, daß ein Mann wie Sie zu keiner Sicherheit gelangt, in keiner Beziehung.« – »Wissen Sie kein Medikament dagegen?« kam es mit trübem Spott zurück. – Kerkhoven erwiderte: »Irgendwo habe ich einmal das tiefsinnige Wort gelesen; der Kranke ist ein Arzt, der sich durch die eigenen Gifte heilt.« – »Ich bin kein solcher Kranker, mich bringen die Gifte um.« – »Wenn Sie an Bettina zweifeln, hat die jahrzehntelange Gannakrankheit nichts in Ihnen gewirkt. Ich habe Sie in der Rekonvaleszenz geglaubt.« – »Zweifle ich denn an Bettina? An mir doch, an mir! Und suche Anhaltspunkte, Bestätigungen...« – »Das ist es nicht. Sie benehmen sich Ihrem Schicksal gegenüber wie ein agent provocateur.« – »Daran ist was Wahres,« gab Alexander betroffen zu. – »Oder wie ein Roulettespieler. Ich fürchte, Sie sind eine Spielernatur. Ein Mensch, der sich betäubt, indem er verzweifelt hazardiert. Dabei sind Sie so reich, daß es vollkommen wahnsinnig ist, zu spielen.« – »Ich bin zu tief in Bettinas Schuld,« sagte Alexander kaum vernehmlich.

Jetzt endlich drehte sich Kerkhoven um. »Heillos,« murmelte er, »heillos. Schuld, Schuld, Schuld. Wenn zwei Menschen in echter Gemeinschaft leben, gibt es keine Schuldenrechnung und keinen Schuldendienst. Jeder übernimmt die Lasten des andern zu treuen Händen.« – »Trotzdem; ich habe versagt.« – »Haben Sie bei Ihrer Geburt eine Urkunde unterschrieben mit der Verpflichtung, niemals zu versagen? Das Gefüge von Kraft und Schwäche in uns hat einen magnetischen Pol, der ist das Anziehungszentrum der Liebe.« – »Mag sein, aber der Körper ist ein störrisches Vieh.« –«Was... wollen Sie damit sagen?« – »Ganz einfach; daß ich über den Widerspruch nicht hinauskomme, der zwischen der Anzahl meiner Jahre und einem Trugbild von Junggebliebensein klafft.« – »Warum Trugbild? Sie sind ja jung geblieben. Unbegreiflich jung. Warum Trugbild?« – »Dem Manne werden unumstößliche Beweise geliefert, Joseph Kerkhoven...« – Kerkhoven ging auf ihn zu und sah ihm fest in die Augen. »Es ist die Ungeduld in Ihnen, die blasphemische Ungeduld,« sagte er leise, »Sie greifen den Entscheidungen vor und nehmen zu hohe Anleihen auf.« – »Ich kann mich nicht an die veränderten Gezeiten gewöhnen, das ist wahr. Es macht mich rasend zu denken, Bettina könnte rufen, und ich bin taub. Dann stell ich mir vor, daß sie... daß sie Kompensationen sucht.« – Kerkhoven legte ihm beide Hände auf die Schultern. »Bei mir?« fragte er mit einer seltsam tragisch klingenden Eindringlichkeit, »bei mir?« – Alexander konnte seinen Blick nicht standhalten. Seine Augen wichen zur Seite. Es war inzwischen dunkel geworden. Nur weil sie einander so nah waren, unterschied einer des andern Züge noch. »Können Sie verschwiegen sein?« fragte Kerkhoven, »unbedingt verschwiegen?« – »Ich glaube.« – »Ihre Hand!« – Alexander reichte ihm die Hand. – »Einem Freund darf man ein solches Geständnis machen,« fuhr Kerkhoven mit vorsichtig gedämpfter Stimme fort, »zumal wenn er eine so... so unfreundschaftliche Torheit begeht...« Er setzte sich auf die Sofalehne und sprach in die Dunkelheit hinein: »Ich habe nämlich... warten Sie... zwölf, vierzehn, vielleicht sind es fünfzehn... ich habe noch fünfzehn Monate zu leben. Höchstens.« – Alexander packte ihn am Arm. Flüsternd fragte er: »Wieso denn? was ist denn?« – »Das kann ich Ihnen genau sagen. Ich habe mich um die Feststellung gewissenhaft bemüht. Es handelt sich um eine Endokarditis lenta, eine allmähliche Blutzersetzung.«– »Und das ist sicher? Sie täuschen sich nicht?« – »Ich täusche mich bestimmt nicht.« – »Es gibt keine Heilung?« – »Keine.« – »Seit wann...?« – »Seit etwa sechs Wochen weiß ich Bescheid.« – »Es kann nicht sein, Joseph, es ist unmöglich,« sagte Alexander, die Hände ineinander pressend, und da Kerkhoven nur mit einem leisen überlegenen Brummen antwortete: »Wie haben Sie es entdeckt?« – Kerkhoven lachte vor sich hin. »Verlangen Sie wirklich eine Anamnese? Wozu?« – »Und die Ursache?« – »Ein Streptokokkus. Ich habe ihn mir auf Platten gezüchtet. Kann sie Ihnen gelegentlich zeigen. Eine interessante grünliche Kolonie.« Er ging auf und ab. – »Seltene Krankheit übrigens. Eine königliche Krankheit. Man weiß fast nichts darüber.« – »Und Marie? hat sie...« – »Um Himmelswillen! Keine Ahnung. Das wäre! Niemand darf ahnen... Es war Vorsatz von Anfang an... Ich muß mit diesen fünfviertel Jahren umgehen wie mit einem kostbaren Schatz... Verrat ich mich, ist es eine Art Selbstmord. Die Zeit, die mir bleibt, muß Zug für Zug geatmet werden. Was das heißt? Kann ich Ihnen schwer erklären. Hinübergeatmet in eine andere Dimension. In die... in die vierte Existenz vielleicht. Nein, fragen Sie mich nicht; es ist besser, Sie fragen mich nicht. Möglich, daß es ein Fehler war, Ihnen reinen Wein über mich einzuschenken... verzeihen Sie die triviale Redensart, aber jetzt wissen Sie wenigstens, daß Sie über Ihre Befürchtungen lächeln dürfen. Und das ist das einzige, was ich von Ihnen erreichen wollte.«

Damit ging er.

Langsam schritt er auf das Hauptgebäude zu. Dort wartete die Schwester Wys-Wiggers, um ihm Bericht über das Befinden einer neuen Patientin zu erstatten, einer Schauspielerin aus Mannheim, die mit einer schweren Kokainvergiftung in Begleitung einer Freundin gestern im Auto angekommen war und am selben Abend einen Tobsuchtsanfall gehabt hatte. »Wir werden sie kaum durchbringen,« sagte er und schrieb einige Notizen auf ein Blatt Papier, das er der Schwester reichte. – »Sie sieht immerfort Ratten im Zimmer,« sagte Schwester Else. Er nickte. »Jaja, die gewissen Ratten,« seufzte er, »die ganze Welt wimmelt von ihnen. Sie sehen Ratten, sie sehen nichts als Ratten, die armen Menschen...«


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