Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Es überraschte Kerkhoven nicht, als ihm Marie sagte, sie habe den Eindruck, Jeanne Mallery sei im Innern überzeugt, die Selma Imst wirklich ermordet zu haben und daß sie an den gerichtlichen Freispruch und an die Tatsache, daß sie mit Karl jetzt unter einem Dach lebte, nicht ernstlich glauben könne. Es war die logische Folge in der finster-unlogischen Verkettung. Marie verbrachte bisweilen den Abend in Jeannes Zimmer, um sie zu zerstreuen und von ihren Zwangsvorstellungen abzulenken. Die schlimmste Zeit war die vor dem Einschlafen. Sobald sie sich ins Bett legte, erzählte Marie, zitterte sie wie Espenlaub und fing an, unverständliche Worte in die Luft hinein zu reden, wobei ihre Augen einen nichtvorhandenen Gegenstand oder eine unsichtbare Person fixierten. Dann brach sie in unaufhaltsames Schluchzen aus. Marie war von diesen Szenen jedesmal so erschüttert, daß Kerkhoven sie bat, die abendlichen Besuche einzustellen. »Man kann sie doch nicht in ihrem Elend liegen lassen!« rief Marie aus; »gibt es denn kein Mittel? kannst du nichts tun, Joseph? worauf wartest du eigentlich?« – »Ich muß auf einen Klimax warten,« erwiderte er, »den Moment des stärksten Anfalls, wo er gleichsam in sich selber zusammenbricht.« – »Kann man einen solchen Menschen nicht mit der Wirklichkeit, mit dem Augenschein konfrontieren?« fragte Marie schülerhaft, »geht das nicht?« – »Wie denkst du dir diese Konfrontation, Marie? Was du Wirklichkeit nennst, ist doch auch etwas Ungreifbares und Eingebildetes.« – »Sonderbar, während du es sagst, wird es mir bewußt,« antwortete Marie betroffen; »man kommt sich vor wie der Mann aus Syrerland, der im Brunnen hängt; oben das böse Kamel, unten der wilde Drache.« – »Du vergleichst nur das Gleichnis,« sagte Kerkhoven trocken, »aber vergiß wenigstens die süßen Beeren nicht, nach denen der Unglückliche trotzdem schnappt.«

Gegen zehn Uhr abends, als Kerkhoven die Treppe zu seinem Arbeitszimmer hinaufstieg, vernahm er im Korridor des Erdgeschosses eine leidenschaftlich-erregte Frauenstimme. Er lauschte. Eine zweite Stimme war nicht zu hören, es war kein Zwiegespräch, die Stimme sprach allein. Da nickte er vor sich hin und kehrte um. Es war finster im unteren Flur, er hatte selber vor ein paar Minuten das Licht ausgedreht. Aber am Ende des schmalen Gangs war eine Zimmertür offen, die von Jeannes Zimmer, und aus diesem fiel ein schwacher Lichtschein fast bis zu der Stelle am Treppenabsatz, wo er stand. Er konnte Jeanne Mallery erkennen. Sie trug ein weißes Nachtgewand, das bis zu den Fußknöcheln reichte. Die Füße waren nackt. Der Filzbelag des Bodens machte die Schritte der nackten Füße vollends unhörbar. Man vernahm nur die klagende, bettelnde, beschwörende Stimme. Abgerissene Worte. Dazu bettelnde, beschwörende Gesten. Der Gang einer Traumwandlerin. Lady Macbeth, mußte Kerkhoven denken. Er strengte sich an, die Worte zu verstehen, die an eine unsichtbare Begleiterin gerichtet waren. Aber er hörte nur den Namen Selma und dazu ein: »schau« oder »ich bitt dich«; »schau, Selma, ich bitt dich, Selma«, dann verlor sich alles in ein hastiges, unartikuliertes, angstvolles, monotones Geflüster. Auf der andern Seite des Flurs tauchte Schwester Else auf. Kerkhoven konnte sich ihr gerade noch bemerklich machen, ehe sie Jeanne in den Weg trat. Er ging auf die Halluzinantin zu und ergriff sanft ihre beiden Hände. Sie war weder erschrocken noch erstaunt. Sie ließ sich ruhig von ihm in ihr Zimmer führen. Er redete ganz leise zu ihr. Es waren völlig belanglose Dinge, die er sagte. Es kam nur auf die schutzversprechende Stimme an. Er hob sie ins Bett, deckte sie zu und strich mit der Hand leicht über ihre Stirn. Sie sah ihn ohne Unterlaß an, mit einem gespannten, aber abwesenden Blick. Es fiel ihm auf, wie verjüngt sie aussah. Beinahe schön. Das Gesicht glühte wie im Fieber. Er setzte sich an den Bettrand und hielt ihre Hand so lange fest bis sie schlief. Dann machte er dunkel, verließ das Zimmer und schloß behutsam die Tür. »Sie wird die Nacht durchschlafen,« sagte er zu der draußen wartenden Schwester; »von morgen an werden wir sie eine Zeitlang unter Schlaf setzen. Ich möchte das javanische Mittel benutzen. Es bewirkt Dauer-Somnolenz und ist so unschädlich wie Zuckerwasser...«


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