Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Alexander zündete eine Zigarette an und schwieg lange. Das erste Wort war schwer zu finden. Endlich begann er von der Unruhe zu sprechen, die ihn heraufgetrieben. Er wisse wohl, daß er damit, wie alle andern auch, zum Räuber an Kerkhovens Zeit werde, aber die Not rechtfertige sein Unterfangen, die aktuellste Not. Was ihm Kerkhoven mitgeteilt, habe ihn aufgewühlt, es sei ihm zumut gewesen als trage er die Verantwortung für diesen zu gewärtigenden Tod, und seine Phantasie und sein Geist weigerten sich, die Vorstellung aufzunehmen. Es sei wider die Natur, wider die Vernunft, wider die Ordnung. Vielleicht glaube Kerkhoven, er sei gekommen, um Pater peccavi zu sagen, jedoch das sei nicht der Fall, wenn er auch andrerseits mit seinem vollen Sündenbewußtsein hier erschienen sei. Nein, Kerkhoven solle ihm nicht widersprechen, nicht die alten Vorhaltungen von eingebildeter Gewissenslast und selbstbesessener Büßerwollust auffrischen, das sei ihm sattsam bewußt, es gehe diesmal um mehr, es gehe um den Alexander Herzog in Bausch und Bogen...

Er hielt inne, um eine neue Zigarette anzuzünden, während Kerkhoven ein paar Holzstücke in den Kamin legte. Dann fuhr er fort. Er müsse Kerkhoven ein Geständnis machen. Die Todeskunde habe ihn zwar gewaltig erschreckt, aber nur äußerlich, auf der Haut sozusagen, innerlich habe sie ihn kalt gelassen. Nein, das sei nicht der richtige Ausdruck, er habe sie wie eine lästige Störung empfunden, einen Eingriff in seine... wie solle er es nennen... in seine Stabilität. Und das sei von jeher so gewesen. Als vor Jahren sein bester, sein einziger Freund an einer unheilbaren Krankheit hingesiecht, habe er jedesmal, wenn er ihn besucht, mit einem verstockten Widerwillen kämpfen müssen, und bei der Nachricht vom Tode des wirklich geliebten Menschen habe sich gleich hinter dem Schmerz ein unverständlicher Haß erhoben wie wenn es eine Bosheit von ihm gewesen wäre, zu sterben, und das Schicksal seine Kompetenzen überschritten hätte, indem es sich an Alexander Herzogs Besitz- und Gewohnheitsrechten vergriff. Unmenschlich, nicht wahr? »Was ist das? was bedeutet das? was steckt dahinter?« fragte er mit einer düstern Flamme in den Augen. Doch Kerkhoven antwortete nicht.

Offenkundig der Unglaube an den Tod, sprach er weiter. Und Unglaube an den Tod sei identisch mit der Unfähigkeit zu leben. Das Seltsame liege darin, daß er sich im Grunde nur wenig für sich selbst interessiere, und dieser auffallende Widerspruch in seinem Charakter, mangelndes Selbstinteresse bei unauflöslicher Selbstverstricktheit erzeuge ständig eine gefühllose und vom Denken gemiedene Kälteschutzzone. Er habe kürzlich mit Marie darüber gesprochen; sie habe gemeint, man müsse das naturbedingte Finstere in sich austilgen, aus sich heraus beschwören, durch Versenkung, durch Verinnigung, darin bestehe die eigentliche Menschenaufgabe, ohne die es keine Bindung ans Obere gebe, vielleicht nicht einmal eine Selbstwahrnehmung. Aber das sei alles leicht gesagt. Wie man es machen solle, habe sie ihm nicht mitteilen können. Auf einmal sei dann die Erkenntnis über ihn gekommen, so wie alle Erkenntnis über ihn komme, blitzartig, wie ein Ausbruch, und zwar erst heute, vor ein paar Stunden erst...

Er schwieg wieder und dachte angestrengt nach. Im Sessel zurückgelehnt, hatte er beide Hände mit verflochtenen Fingern um den Nacken gespannt. Kerkhoven rückte mit dem Schürhaken die Scheite zurecht, sodaß die Flamme hoch aufprasselte.

»Meinem Leben hat etwas Entscheidendes gefehlt,« sprach er weiter; »eine Wurzelverflechtung. Eine bewußte Folge. Alles war dem Zufall des Tages überlassen, dem Ereignis. Alles Geschehen hat mich geblendet, hat das Sein überblendet. Kein Erhobenes, immer nur Eindruck, was genau das Gegenteil ist. Da ist man gewissermaßen gezeichnet. Von Eindrücken wird man gezeichnet wie ein Blatt Papier vom Griffel. Es ist ein sittlicher Defekt. Ich war nie Griffel. Ich habe mich zeichnen lassen. Alles das ist so zweideutig, aber Sie werden mich ja verstehen. Deswegen hatte ich mich nie in der Hand. Jeder Wind konnte mich wegwehen. Genau genommen habe ich nur vegetiert. Ein Instinktkloß. Eine Laterna magica, die Bild um Bild an die Wand warf. Und zwischen den Bildern war eine Art stimmungsvolle Nacht. Im Glücksfall; im andern eine friedlose, freudlose. Ja, ich bin ein Nachtmensch gewesen. Und ich habe meine Nacht mit Worten illuminiert wie mit hunderttausend kleinen Lampions. Das allein hat mich gereizt und befriedigt, die Lampions aufzuhängen und Beleuchtungseffekte zu veranstalten. Nein, ich bin nicht zu hart gegen mich. Ich weiß schon, daß es kein bloßes Feuerwerk war, eine richtige Lichtquelle war es auch. Aber sehen Sie, in mich selbst ist kein Licht eingedrungen, derart nicht, daß ich das Leben vergessen und an den Tod nicht geglaubt habe. Das ist das Rätselhafte dabei. Und noch etwas. Die Geschöpfe, die ich im Bild geschaffen habe, sind alle einen Weg nach aufwärts gegangen und haben das Böse überwunden; ich selbst bin unten geblieben und konnte das Böse nicht überwinden. Ich habe nicht die Konsequenzen gezogen. Aus Trägheit? Aus Angst? Ich weiß es nicht. Und so habe ich mir wohl nur eingebildet, zu glauben. Es war eine übertragene Angelegenheit. Wenn das Herz verbraucht ist, übernimmt der Kopf seine Geschäfte. Sich mit dem Intellekt zum Ewigen wenden, das heißt auf dem hohen Seil tanzen. Da gleicht man dem Seiltänzer, der herunterstürzt, sobald er an die fünf Taler denkt, die ihm sein Kunststück einträgt. Mein ganzes Leben lang haben sich die Engel und die Teufel um meine Seele gestritten, aber die Teufel haben immer die Oberhand behalten, es ist ihnen jedesmal gelungen, mich einzufädeln, vielleicht haben sie auch meine Phantasie stärker beschäftigt, weil sie mehr Augenscheinlichkeit haben, und so ist gleichsam der weiße Glaube in mir ein schwarzer Glaube geworden. Jetzt wissen Sie auch, was Ganna in meinem Leben bedeutet hat. Sie war die dämonische Wirklichkeit ganz einfach. Sie wars, sie ist es nicht mehr. Ihr Werk, Joseph. Sie haben es tatsächlich erreicht, sie zu verwinzigen und zu vernichtigen. Aber damit ist ein Hohlraum entstanden. Ein Vacuum; ein Gefühl als seien einem die Eingeweide herausgenommen...«

Er legte die Hand über die Augen und sagte: »Wie ist es denn mit Gott? Wer ist Gott? Gibt es ihn?« Plötzlich beugte er sich vor, packte Kerkhoven bei den Knieen und flüsterte mit rauher Stimme: »Einfältige Narrenfrage: gibt es ihn? Ich habe kein Bild, ich habe keine Vorstellung, ich kann nicht sagen: ich glaube an ihn, ich kann höchstens sagen: ich glaube ihn, aber handelt es sich denn um eine Wirklichkeit und nicht wieder um eine Flucht aus der Wirklichkeit? Um ein Wesen, nicht wieder um ein Abbild?«


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