Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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»Vor allem sag mir,« begann Marie, ehe Kerkhoven noch die Türe hinter sich geschlossen hatte, »hältst du es für denkbar? Hältst du es für möglich, daß ein Mensch etwas derartiges aussinnt? Eine Frau! Und nicht nur aussinnt, auch vollbringt –?« – »Da du so fragst,« erwiderte Kerkhoven, zu Boden starrend, »scheinst du von der Annahme auszugehen, daß...« Er zögerte. – »Sprich es nur aus,« rief Marie, »daß sie sich umgebracht hat, um sich an ihrem Mann und an der Mallery zu rächen.« – »Das ist allerdings möglich, es ist sogar wahrscheinlich,« gab Kerkhoven zu, »es ist nur nicht gleichbedeutend mit der Absicht, sie unter Mordanklage zu bringen.« – »Nicht? Geh doch, Joseph! Gibt es da einen Zweifel? Etwas so tückisch Ausgeklügeltes wie das mit der Schachtel... und wie sie alles vorbereitet hat... wie sie den Arzt nicht kommen lassen wollte... wie die Eintragungen im Tagebuch schon darauf berechnet sind, den Verdacht auf die beiden zu lenken... den Mann zu belasten, seinen Charakter zu entstellen... und da willst du mir einreden...« – »Du hast mich gefragt, ob es möglich ist, und es zeigt sich, daß du meine Antwort gar nicht brauchst,« entgegnete Kerkhoven mit schwachem Lächeln; »das ist unlogisch. Du begehst den gewöhnlichen Fehler, eine bewußte Tat vorauszusetzen, wo vermutlich nur eine Instinkthandlung vorliegt. Gewiß, eine solche kann viel folgerichtiger und grausamer sein als die klar überlegte, aber sie untersteht nicht derselben Verantwortlichkeit. Es sind sozusagen nur die ausführenden Faktoren da, die Befehlsgewalt aber nicht.« – »Ach was, Instinkthandlung!« widersprach Marie heftig, »das sind Deuteleien. Der Mensch ist etwas Ganzes, er läßt sich nicht in eine anwesende und eine abwesende Hälfte zerteilen. Wenn mir eure Wissenschaft weißmachen will, daß das Böse, das Grundböse, von sich selber nichts zu wissen braucht, dann kommt sie mir wie ein Götze vor, der sich von seinen Priestern bereden läßt, die Verbrechen und die Sünden zu einem Erwerbszweig zu machen.« – »Nicht darum geht es, Marie,« sagte Kerkhoven, noch immer mit dem Lächeln des Mannes, der Geduld üben muß, weil es sein Beruf ist, geduldig zu sein, »nicht darum...« – »Doch, doch, doch,« unterbrach ihn Marie mit leidenschaftlichem Kopfschütteln; »was ich hier sehe, ist ein solches Übermaß von Verworfenheit, etwas so scheußlich Abgefeimtes, dreh und wend es, wie du willst, daß man sich ernstlich fragt, ob es noch was zu tun hat mit unsern Begriffen von Seele und Gefühl und Liebe und so weiter. Ein Weib noch dazu! Ein Weib! Eine meines Geschlechts!« Sie kehrte sich um, drückte die Stirn gegen den Türpfosten und schluchzte hilflos. – Kerkhoven ging eine Weile schweigend auf und ab. »Die Tränen ehren dich, Marie,« sagte er dann bewegt; »wahrhaftig, ich weiß nicht, was ich dir noch sagen könnte... außer... daß es eben unsere Aufgabe ist, uns mit der Menschenwelt abzufinden. Und vielleicht noch etwas mehr. Sogar in einem Fall wie diesem... zugegeben selbst, die Frau hätte das bösartige Gewebe mit Vorbedacht geknüpft... bedenk doch, die unsinnige Kraft, die dazu nötig war! Sie ignoriert den eigenen Tod dabei! Der ungeheure Traum: der Mann und seine Geliebte von ihr, der Toten, bestraft, von ihr, der Toten, ins Zuchthaus geliefert! Sie wirkt noch, sie richtet noch, sie herrscht noch im Tode!« – »Jaja; nun? nun?« murmelte Marie, »also?« – »Ich finde, es hat Größe; oder wenn du das Wort nicht annimmst, es ist eine Erscheinung wie ein Sturm eine Erscheinung ist. Ich wenigstens, ich stehe staunend davor. Neulich hat man mir eine tolle Geschichte erzählt. Im Hospital von Alicante in Spanien brach eine Revolte unter den Leprakranken aus. Sie überfielen die Wärter, stürmten aus dem Haus, drangen in ein Dorf in der Nähe und forderten von den Bauern, daß sie sie küssen sollten. Ich weiß nicht, warum ich gerade heute daran denken mußte. Stell dir das vor: Lepröse, die geküßt werden wollen! Und stell es dir vor: diese Selma Imst, deren letzte Wollust es ist, zu wissen, daß sie im Tod, und nur im Tod, Vergeltung üben kann für alles was sie gelitten!« – »Hat sie es denn gewußt? Es hätte ja auch anders kommen können.« – »Ja, siehst du, das ist das Sonderbare bei solchen Triebmenschen. Sie verrechnen sich eigentlich nie. Es ist wie wenn sie im Einklang mit einer Macht handelten, die das Böse genau so bejaht wie das Gute.«

Marie stand da mit gesenktem Kopf und schaute ihre Finger an. Ihr war kalt am Leibe. In ihren Zügen war etwas bang Horchendes. In der Tat war ihr zumute als höre sie eine Stimme, die ihr zurief: wenn du noch einen Schritt weitergehst auf diesem Weg, bist du verloren. Sie sah den Abgrund. Den Abgrund des Wissens und Erkennens. Wie ihm entkommen, da doch ihr ganzes Inneres ebenso nach Wissen und Erkennen lechzte wie nach dem andern, Unlehrbaren, Unerfaßbaren?

Kerkhoven spürte, was in ihr vorging. War er doch selbst in der Schwebe. Wie nahe er daran war, die Realwelt preiszugeben und sich zum Anwalt der Marienwelt zu machen, das erfuhr er zu seiner eigenen Verwunderung schon am Tag darauf während einer Auseinandersetzung mit Martin Mordann.


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