Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Eines war aber dawider. Eine folternde Unruhe wich nicht von ihm. Sie war das stärkste Hindernis für den Reinigungsprozeß. Bemüht, das Wesen der Wahnvorstellungen zu erforschen und sie tiefer zu fassen als es bis jetzt geschehen war, stieß er auf eine verderbliche, an der sein eigenes Gehirn erkrankt war. Sie versetzte ihn bald in die Stimmung grauer Mutlosigkeit, bald quälte sie ihn als unbezähmbares Vergeltungsgelüst. Bisweilen schwebte ihm etwas wie ein Duell vor, natürlich keins auf Pistolen, kein handgreifliches, sondern eine geistige Auseinandersetzung, eine letzte Abrechnung, ein Sühneakt. Zu ungeheuerlich war die ihm widerfahrene Beleidigung, zu schmählich der Undank; er konnte es nicht verwinden und vergessen. Er lechzte nach Genugtuung in irgendeiner Form, als Reue, als Abbitte, als Erklärung, als Bekenntnis, als Beichte eines seit dem begangenen Verbrechen unerträglichen Lebenszustandes. Schon dies wäre Entsühnung gewesen. Aber nicht zu wissen, was der Verrat im Verräter bewirkt hatte, sein Sich-aller-Verantwortung-Entziehen mit dem schweigenden Hohn gegen Gericht und Urteil, damit konnte man sich nicht abfinden. Vernunftgründe waren ohnmächtig. So weit war er damals noch nicht, daß er sich kraft eigener Seelendiätetik von dem Druck eines Erlebnisses hätte befreien können, das mit demselben Gewicht auf ihm lastete wie ein öffentlich erlittenes Unrecht oder eine schandvolle Anprangerung. Und wenn er sich mit Maries Worten vorsagte, daß er in einer verstorbenen Begriffswelt lebe, mit unwürdigen Ressentiments und lächerlichen Schemen von Mannesehre, so erstickte dies nicht für einen Augenblick sein Bedürfnis nach gerechtem Ausgleich.

Man muß eben bedenken, was Etzel Andergast ihm gewesen war. Die Sohngestalt im Überleiblichen. Der geistige Erbe. Auf solche Sohnschaft ist der schöpferische Mensch stärker angewiesen als auf die blutmäßige. In Etzels Person hatte er die Jugend als Nachfolge gewonnen. Die bedingungslose Anhänglichkeit des Jüngers und Schülers hatte ihn beglückt. Sie war von dem unabhängigsten Charakter dargebracht worden, der ihm je begegnet war. Sie beruhte auf einem Erfahrungsreichtum, wie ihn nur ein außergewöhnliches Schicksal und eine keimträchtige Zeit in einem jungen Menschen aufspeichern konnten. Er hatte etwas wie einen Helden in diesem Andergast gesehen, einen jungen Herakles, einen künftigen Führer, und seine Liebe und Verehrung hatten ihm wohlgetan, waren ihm Bestätigung und Ansporn gewesen. War es möglich, war es denkbar, daß ein so aufrichtig ergebenes Herz vorsätzlichen Verrat geübt, zu gemeiner Heuchelei seine Zuflucht genommen hatte? Was für Rechtfertigungen hatte er vorzubringen? Es konnte ja ein Mißverständnis obwalten, das unaufgedeckt geblieben war, von dem sogar Marie nichts ahnte. In Maries Geheimnis war er eingedrungen, in das des Mitschuldigen nicht. Marie war geläutert aus der Untersuchung hervorgegangen, der Mitschuldige hatte sich noch nicht einmal gestellt. Somit war der Fall nicht zum Austrag gelangt. Somit war die Ordnung in Kerkhovens innerer Welt noch gestört.

Vielleicht hätte es den ungestillten Aufruhr seines Gemüts schon besänftigt, das war der Sinn der Andeutung, die er gegen Marie hatte fallen lassen, wenn der Treubrecher stumm vor ihm gestanden wäre und er in seinen Mienen das Verlangen nach Absolution gelesen hätte. Aber er fragte sich unzufrieden, ob darin nicht eine verwerflichere Rachsucht steckte als die banale, die einen Feind vor die Mündung einer Schußwaffe fordert. Er litt jedoch. Die Wunde vernarbte nicht. Und so, mehr getrieben als wollend, begab er sich auf die Suche nach dem »Feind«.


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