Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Karl Imst sah ziemlich bäurisch aus, vierschrötig und plump. Die aschfahle Gesichtsfarbe und das scheue Wesen erklärten sich durch die langjährige Zellenhaft. Auch der schwankende, fast taumelige Gang. Die Mallery mochte einmal schön gewesen sein, eine jener schweizerisch-romanischen Schönheiten, deren Edelrassigkeit sich vor allem in Haltung und Gestus äußert. Jetzt war alles an ihr zerstört und eine kleinbürgerlich wirkende, schwer erschöpfte Frau übriggeblieben. Sie war dermaßen überempfindlich, daß heftige Geräusche wie Hämmern, Holzhacken, Hupensignale einen Tränenstrom auslösten.

Bei der ärztlichen Untersuchung stellte Kerkhoven ein krankhaftes Versagen der Organleistungen fest. Sehkraft, Atmung, Verdauung, Nervenfunktion, Stabilitätsgefühl, alles hatte gelitten, namentlich aber Herz und Nieren. In seelischer Beziehung fehlte jeder Impuls, jeder Antrieb. Da Imst das Verlangen geäußert hatte, seinen achtjährigen Sohn zu sehen, der bei Verwandten in der Innerschweiz in Pflege war, ließ Kerkhoven den Knaben kommen. Aber als er dann da war, kümmerte sich Imst kaum um ihn, ja, er schien das Kind mit Abneigung zu betrachten.

»Der Mann ist einfach nicht wiederzuerkennen,« sagte Schwester Else zu Kerkhoven; »wenn Sie bedenken, daß das einmal ein lebensfroher Mensch war, ein Unband von Kerl, Jäger, Hochtourist, Skiläufer. Und jetzt? Eine Ruine.«

Das Auffallendste war, daß Imst und Jeanne nach den ersten Tagen des Beisammenseins einander ängstlich zu meiden schienen. Das heißt, Imst war es, der Jeanne aus dem Weg ging, unerfindlich aus welchem Grund. Die Wys-Wiggers, die beständig eine rührende Teilnahme für die beiden bezeigte, zerbrach sich den Kopf darüber; sie versicherte Kerkhoven immer wieder, die arme Jeanne gräme sich halb zutode. »Was mag denn nur dahinterstecken?« fragte sie ratlos. – »Ich fürchte, etwas recht Schlimmes,« antwortete Kerkhoven, und als ihm die Schwester an einem der folgenden Tage berichtete, Imst habe gebeten, man möge in der Doppeltür zwischen seinem Zimmer und dem der Mallery eine Matratze zur Geräuschdämpfung anbringen, schaute er eine ganze Weile nachdenklich vor sich hin.


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