Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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64

Mordann lag im Bett. Er klagte über Atemnot und Stiche im Herzen. Die Stirnhaut glänzte feucht. Auf einem verstellbaren Tisch über der Bettdecke lagen Stöße von Büchern, Briefen und Manuskripten. Das Fenster war offen, und da er sich vor dem Luftzug fürchtete, hatte er eine graue Sportmütze auf dem Kopf. Am oberen Glied des Daumens der linken Hand trug er einen riesigen alten Siegelring, wie ein Bischof. Alle diese Sonderbarkeiten hatten etwas Paradoxes und Herausforderndes. Seine Bewegungen waren fahrig und erinnerten an die einer launenhaften kränklichen Frau. Denn bei ihm verschanzte sich die wirkliche Krankheit hinter einer zur Schau getragenen Kränklichkeit.

»Na, ich habe gehört, Sie haben sich gestern Abend okkultistisch betätigt,« empfing er Kerkhoven mit einem stillen Feixen; »man kann meiner Tochter nicht nachsagen, daß sie eine Adeptin ist, aber was sie erzählt, klingt recht doll. Ich sagte ihr, du hast n Frost im Kopp, liebes Kind; hast dich hereinlegen lassen. Also ich lache mich schief.« – »Freut mich, daß ich Ihnen Grund zur Heiterkeit gebe, Herr Mordann,« antwortete Kerkhoven; »leider war die Sache selbst nicht gerade vergnüglich.« – »Weiß es, weiß es,« winkte Mordann ab, »Sie wollen der Tigerin Justitia eine Beute aus den Klauen reißen. Wird Ihnen nicht gelingen. So nicht. In dieser Schule hab ich auch mein Lehrgeld bezahlt. Die Jean Calas und die Dreyfuß sind ja heutzutage keine Seltenheiten mehr, man kann sich kaum mehr was drauf einbilden, wenn man sich zu ihren Voltaires und Zolas macht. Ist zu billig geworden. Aber mit der Geisterbeschwörung habe ichs nie versucht. Ganz originell. Mal was anders als die blöde gesunde Vernunft.« – »Ja; mit der gesunden Vernunft ist man eben auf keinen grünen Zweig gekommen,« bemerkte Kerkhoven lächelnd. – Mordann musterte ihn scharf hinter verkniffenen Lidern. »Unter uns, Professor, halten Sie ernstlich was von dem Humbug? Hand aufs Herz...« – Kerkhoven setzte sich an den Bettrand und befühlte den Puls des Patienten. »Hm... Humbug...« sagte er; »Sie meinen damit gewisse unbekannte Bluts- und Seelenkräfte? Ich will Ihnen zugeben, daß man gegen den Strom schwimmt, wenn man... wenn man sie einzubeziehen sucht.« – »Na sehen Sie. Jedes Gericht wird Ihnen was blasen. Es kommt mir vor wie wenn einer mit dem Kindersäbel in den Schützengraben geht.« – »Immerhin gibt es bereits so etwas wie eine Kriminaltelepathie,« versetzte Kerkhoven, »nur offiziell wird sie noch nicht gehandhabt.« – »Gehandhabt ist gut,« kicherte Mordann, »ist sogar sehr gut. Sie glauben also tatsächlich, daß ein übergeschnapptes dummes altes Weib, gestützt auf sogenannte hellseherische Gaben, daß sie... na sagen wir mal beispielsweise, daß sie imstande wäre, Ihnen zu verraten, was ich am sechzehnten Mai achtzehnhundertdreiundneunzig, ein historisches Datum, Verehrter, was ich an diesem sechzehnten Mai mit dem Fürsten Bismarck gesprochen habe. Es gab keine Zeugen bei diesem geheimen Gespräch. Kein Mensch auf Erden weiß eine Sterbenssilbe davon. Ich habe es nur für mich notiert. Und Sie glauben, die erstbeste Gauklerin und Psychopathin könnte...« Er hatte sich aus den Kissen aufgerichtet und starrte Kerkhoven mit höhnischem Triumph ins Gesicht. – »Ich glaube es nicht nur, ich halte es sogar für äußerst wahrscheinlich,« versetzte Kerkhoven; »es hängt von bestimmten Einflüssen ab, bestimmten Konzentrationsmöglichkeiten...« – »Das ist barer Quatsch, Herr... man muß sich an den Kopf greifen...« – »Es ist nützlich, wenn man sich manchmal an den Kopf greift. Sie können kein Urteil haben, weil Ihnen die einschlägige Erfahrung fehlt.« – »So entschlüpfen Sie mir nicht,« krähte Mordann erbost, »die Tricks kenn ich. Eure Erfahrung! Wer die Augen offen hält und sich keinen blauen Dunst vormachen läßt, wird aus der Gemeinde der Gläubigen ausgeschlossen und kommt in den Kirchenbann. Damit führen uns seit jeher die Pfaffen aller Fakultäten an der Nase herum. Worauf läufts denn hinaus? Ich soll eine gesicherte geistige Position aufgeben und einen metaphysischen Luftkurort beziehen, wo mir dermaßen schwindlig wird, daß ich zu allem Hokuspokus Ja und Amen sage. Probates Mittel, den Verstand zu diskreditieren und die Welt auf den Hund zu bringen, auf dem sie ohnehin bereits angelangt ist. Zum frommen Schluß heißt es dann wohl: wie hältst dus mit der Religion? oder irr ich mich darin?« – »Es könnte sein, daß es sich auf diese Frage zuspitzt. Ich stelle sie nicht. Es hat mit der Religion zunächst nichts zu schaffen.« – »Sondern?« – »Mit Gehorsam. Einer Form des Gehorsams. Mit Selbstgehorsam.« – »Versteh ich nicht.« – »Führt auch zu weit, Herr Mordann.« – »Na, hören Sie, Männeken, mich können Sie so weit führen wie Sie wollen, fragt sich nur, ob Ihnen nicht die Puste ausgeht.« – »Nein. Wir stehen in verschiedenen Zeitaltern und sprechen in verschiedenen Sprachen zueinander.« – »Ist mir neu. Bisher war mir nichts Menschliches fremd.« – »Aber alles Göttliche.« – Mordann stutzte. »Was sagen Sie da? Donnerwetternochmal...« Seine vorquellenden Augen irrten wie erschreckt im Zimmer herum. Plötzlich kreischte er belustigt auf. »Vorzüglich, Geschätztester. Jetzt hab ich Sie erwischt! Ich höre ordentlich, wie sich der heilige Darwin und der heilige Häckel im Grab umdrehen. Hochmoderne Nebelfabrikation der mystisch-erleuchteten Wissenschaftler, die auf das Göttliche schlagen und ihre Zauberkunststückchen meinen...« – Er lachte kollernd hinter seinem Handrücken. Mit einem Mal ging das Gelächter in einen krampfartigen Husten über, der sich von Sekunde zu Sekunde verstärkte und den ganzen Körper durchschüttelte. Die Arme bewegten sich flatternd, der Kopf wackelte hilflos auf dem fetten Hals, das Gesicht bekam eine cyanotische Färbung, die Schläfenadern schwollen an wie Stricke.

Kerkhoven läutete Sturm nach der Schwester. »Kampferspritze!« rief er ihr zu, als sie hereinstürzte. Indessen schien es als wolle der harte, trockene Husten die Brust des Mannes zerreißen. Es war ein Geräusch zwischen Bellen und Röcheln, es keuchte wie aus einem Blasebalg, knarrte wie verrostete Wagenräder, es hatte etwas so Schauerliches wie lautgewordener Todeskampf und drang bis in die entferntesten Räume des Hauses. Kerkhoven packte den verzweifelt sich Windenden und Umsichschlagenden bei den Armen und hielt sie unter größter Kraftanstrengung in die Höhe. »Großer Gott, er stirbt!« sagte eine rauhe Stimme neben ihm. Es war Agnes Mordann. Halbangekleidet und in Strümpfen stand sie vor dem Bett, eine brennende Zigarette zwischen den Fingern der erhobenen Linken. »Werfen Sie die Zigarette weg!« herrschte Kerkhoven sie an. – »Ja, ja,« hauchte sie bestürzt und warf den Stummel zum Fenster hinaus. Als die Schwester mit der Spritze eintrat, hörte der Husten so jäh auf wie er begonnen hatte. Der Mann lag still da, mit geschlossenen Augen und geballten Fäusten, unregelmäßig atmend. Agnes beugte sich zu ihm nieder. »Wünschst du etwas, Vater?« hauchte sie. Dann, zu Kerkhoven gewendet, kaum vernehmlich, sodaß er die Worte nur von ihren Lippen ablas: »Ist noch Hoffnung?« – Er machte eine warnende Geste und trat in die Mitte des Zimmers. Sie folgte ihm mit dem beharrlich fragenden Blick. »Für den Augenblick besteht durchaus keine Gefahr,« sagte er. – »Können Sie ihn denn retten?« forschte sie mit finsterer Miene, »liegt es in Ihrer Macht? Oder haben Sie ihn schon zum Tod verurteilt?« – Kerkhoven sah sie mit zusammengezogenen Brauen an. Er verbarg seine Betroffenheit. – »Es ist Ihnen doch klar, was für ein Mann mit ihm stirbt?« fragte sie fast drohend. – »Ja, es ist mir klar.« – »Aber das eine können Sie schwerlich wissen: daß ich entschlossen bin, ihn nicht zu überleben.« Sie lachte kurz und scharf auf, es klang dem Lachen des Vaters zum Verwechseln ähnlich, und kehrte sich schroff zur Türe. Ihre großen Füße in den braunen Strümpfen wirkten seltsam abstoßend.


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