Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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»Sehr interessant; ich glaube, ich kenne ihn jetzt durch und durch,« sagte Kerkhoven, »und das Seltsame ist, ich sehe ihn in Ihnen drin. Seltsam, nicht als biologische, sondern als optische Tatsache.« – »Das mit der Verlegenheit ist merkwürdig,« äußerte sich Marie, »Verlegenheit... das ist doch nur eine Umschreibung von Schuldbewußtsein...« – »Sprechen Sie nicht davon, ich weiß es,« fiel ihr Alexander hastig ins Wort, »ich möchte ihn wirklich nicht nach dreißig Jahren in mir wiederentdecken.« Unwillkürlich schob er die Hand in die Tasche, da Kerkhovens Blick darauf ruhte. – »Ein unfaßlich einsamer Mensch muß es gewesen sein,« fuhr Marie fort; »von einer derartigen Einsamkeit ahnen wir ja nichts. Hat er jemals nach etwas anderm gestrebt als nach Geld? Hat er jemals... wie soll ich es möglichst unpathetisch ausdrücken?... zu den Sternen hinaufgeschaut?« – »Zu den Sternen? Nein. Halt ich für unwahrscheinlich. Wenigstens nicht in dem Sinn, den Sie meinen, Frau Marie.« – »Wurde in Ihrem Elternhaus auch nie von dergleichen gesprochen... von... sagen wir also: von der Sternen?« – »Nein. Ich kann mich nicht erinnern.« – »Gab es in Ihrer ganzen Jugend nichts... keine Regung... kein frommes Gefühl... keine Sehnsucht nach oben... verzeihen Sie, das klingt alles ein bißchen zudringlich..., aber eine gewisse pflichtmäßige, gewohnheitsmäßige Religiosität war doch auch in den untern bürgerlichen Schichten verbreitet, ein gewisses Zurschautragen, ein äußerliches Zeremoniell... und wenn man bloß am Sonntag in die Kirche ging...« – »Ich denke nach und denke nach,« erwiderte Alexander, »aber um ehrlich zu sein: auch das war nicht vorhanden. Man war freigeistig. Man war stolz darauf, daß man Freigeist war.« – »Aber wie konnte man dabei leben!« rief Marie aus, »ein Kind! ein vollständig gottloses Kind!« – »Ich war nicht vollständig gottlos, Frau Marie. Zu den Sternen hab ich oft hinaufgeschaut, schon weil mirs unten auf der Erde ganz und gar nicht gefallen hat.« – »Ach, damit war ja nichts getan,« antwortete Marie traurig; »das war ja nur Träumerei. Ich weiß es aus meiner eigenen Jugend. Später wird dann so was wie eine schwärmerische Philosophie draus. Man kann nicht genug staunen, daß Sie in einer solchen Umgebung sich selbst gefunden haben. Daß Sie in solchem Boden haben wachsen können und daß aus Ihnen geworden ist, was Sie schließlich sind. Ich begreif es nicht. Ein Künstler scheint also doch ein Wesen für sich zu sein, anders als alle andern...« – »Allerdings,« murmelte Bettina nicht ohne leisen Spott. – Marie errötete. »Ich bitte Sie, Liebe, mißverstehen Sie mich nicht. Ich bin doch keine Pute. Seit Jahr und Tag gärt und braust etwas in mir, Joseph weiß es, ich spreche und frage nicht als ein Mensch, der sich mit seinem Glauben zur Ruhe gesetzt hat und anmaßend drauflos orakelt, o Gott nein, ich bin ja auch in der dicksten Finsternis und taste überall hin und schreie: helft mir, daß ich herausfinde!«

Es war ein aufregender Moment. Sie hatte schnell, fast überstürzt gesprochen, die Röte auf ihren Wangen war einer tiefen Blässe gewichen, ihre Augen standen voller Tränen. Alle schauten sie an. Bettina, die dicht neben ihr saß, neigte sich und küßte spontan ihre Hand. Und drüben unterm Fenster, erhob sich jemand und schritt geräuschlos an das andere Ende des Saals, um sich dort niederzulassen. Es war Aleid. Kerkhoven folgte ihr, flüsterte ihr ein paar Worte zu und kehrte hierauf zu den andern zurück. »Wir dürfen Alexander Herzog nicht in seinem Fundament bezweifeln,« wandte er sich an Marie; »er ist ja eine religiöse Natur, besser gesagt, ein Mensch mit einer religiösen Grundverfassung. Was freilich an sich nicht gar zu viel besagt. Nicht unbedingt muß auf solchem Grund eine höhere Entwicklung vor sich gehen, eine höhere Vegetation gedeihen. Er ist nur die Voraussetzung dazu. Alexander bewegt sich in einer Welt, die uns verschlossen ist. Nach Erkenntnissen zu handeln, ist ihm nicht gegeben, dazu ist er nicht berufen. Wir haben ihn auch nicht zu belehren, wir haben von ihm zu lernen. Er soll uns Botschaft bringen, nicht wir ihm. Wahrscheinlich ist er näher bei den geahnten Mächten als jeder von uns, nur weiß er es nicht. Wenn er es wüßte, wäre ers nicht mehr. Rufen wir ihn aus dem Traum, so hat er uns nichts mehr zu bieten. Mit dieser Tatsache müssen wir uns abfinden. In den Traum ist er eingehüllt wie die Seidenraupe in den selbstgesponnenen Cocon.« – »Wenn man ihn aus dem Traum weckt, ist er überhaupt nicht mehr da,« sagte Bettina lächelnd. – »Ich bin mit Freuden bereit, ihm nachzugehen in sein unsichtbares Reich,« begann Marie, aber Alexander unterbrach sie: »Unsichtbar? unsichtbar? Sie können es gesetzlos nennen, phantastisch, wirklichkeitsverlassen, was Sie wollen, aber unsichtbar? das gerade ist es nicht, denk ich, oder ich bin ein Narr, ein Schwindler.«– »Nicht, nicht, Alexander,« bat Marie mit aufgehobenen Händen, »aber eins müssen Sie doch zugeben: was Sie träumen und schaffen, ist nicht dasselbe wie das, was Sie als Mann und Mensch tun. Nein und abernein. Ihr Traum ist nicht Ihr Leben. Es steckt so enorm viel Negatives in Ihnen. Woher kommt das?« – »Daher, daß ich fast keine Gewißheiten habe. Nicht einmal, ob ich wirklich bin, ist mir gewiß.« – »Haben Sie nie mit einem Gottesgedanken gelebt?« – »Mit dem Gedanken, o ja, mit dem Bild, nein.« – »Sie sagen, Sie wissen nicht, ob Sie sind. Das leuchtet mir nicht ein.« – »Warum nicht?« – »Erinnern Sie sich... in der Matthäuspassion... der bange Aufschrei: ich bins, ich sollte büssen...? Alles an Ihnen schreit fortwährend, stumm und laut: ich bins, ich sollte büssen...« – Darauf blieb Alexander die Antwort schuldig.


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