Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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»Aus welcher Zeit stammen diese Träume?« fragte Kerkhoven, als sie am Abend im Refektorium saßen. – »Alle aus dem letzten halben Jahr,« erwiderte Alexander. – »Bei dem Traum vom Theater ist das ohne weiteres ersichtlich,« warf Kerkhoven ein wenig spöttisch hin; »aber was mich interessiert: was war der Antrieb, sie nochmals aufzuschreiben und aneinanderzureihen?« – »Das kann ich Ihnen genau sagen. Weil meine Träume seit kurzem einen ganz andern Charakter haben.« – »So? welchen denn?« – »Es ist auffallend... natürlich sind die hier nur eine Auswahl... ich wollte es mir selbst demonstrieren... früher: Auseinandersetzung, Selbstzweifel, Sichbedrohtfühlen, Sichzurwehrsetzen, Angst, Angst, Angst; jetzt: alsob ich aus dem Gefängnis entlassen wäre...« – »Und was für Träume sind es jetzt? Mit Deutung, nicht wahr, wollen wir uns nicht abgeben. Es ist eine zu gefährliche Sache. Es steckt zu viel Afterweisheit in der Deutung. Zu viel Eitelkeit der Kombination, zu viel Anmaßung. Kein Mensch, gelehrt oder ungelehrt, kann einen Traum bis zu seinen Quellen verfolgen, und die sichs einbilden, haben keine Ahnung von den Quellen. Aber Sie wollten mir erzählen... worin besteht die Veränderung? Der Vergleich mit dem Gefängnis ist mir zu allgemein...« – Statt zu antworten stellte Alexander Herzog eine Frage: »Haben Sie schon einmal über das Wesen der Botschaft nachgedacht? Das ist es nämlich. Ich bekomme fortwährend Botschaften...« – Kerkhoven spielte den Verständnislosen. »Botschaften? Ei! welche? woher?« – Alexander durchschaute das Spiel und lächelte. »Wozu das Examen, Joseph? Die Botschaften gehen doch von Ihnen aus. Jeder Traum enthält eine. Wenn ich an den denke, der ich war, ehe ich Sie kannte, und der ich heute bin... wie soll ichs Ihnen erklären... es ist als hätte ich vorher nur durch Rauschgifte gelebt... ohne Eros gewissermaßen... verstehen Sie? ohne Eros...« – »Nicht nur gewissermaßen, Alexander. Es war tatsächlich so.« – »Kennen Sie die Geschichte von Johann Tauler, dem Mystiker, und dem Gottesfreund?« fuhr Alexander Herzog fort, »der eigentliche Name des Gottesfreundes ist nie bekannt geworden. Er hieß schlechtweg der Gottesfreund vom Oberland. Er kam zu Tauler nach Straßburg in der Absicht, etwas Rat bei ihm zu schaffen. Er hörte ihn predigen, und als ihn Tauler fragte, der hielt ihn nämlich für seinen Jünger, wie ihm die Predigt gefallen habe, antwortete er kühn, er wolle keineswegs Taulers Lehre antasten, die Lehre, daß man, um zur Gemeinschaft mit Gott zu gelangen, alle sinnlichen und begrifflichen Vorstellungen von Gott durchbrechen, auch das Wohlgefallen des Geistes daran überwinden müsse; nein, das sei schön und wahr; was ihm seine Worte unschmackhaft mache, das sei die sittliche Verfassung seiner Seele. Die Predigt habe ihm den Eindruck gemacht als sei es ihm mehr um die eigene als um Gottes Ehre zu tun, als habe er die Last, die er den Seelen auflege, selbst noch nicht angerührt. Und er forderte von Tauler, daß er alles Predigen aufgeben solle, auch seine Tätigkeit im Kloster, auch seine Studien, und nur seinen eigenen Mangel an Liebe zum Gegenstand seiner Betrachtungen mache. Das tat Tauler, und er wurde der Spott der Klosterbrüder und aller Menschen, mit denen er Umgang gehabt, ja, man behandelte ihn wie einen Irrsinnigen. Er hätte diese Schule der Selbstverleugnung nicht bestehen können, wenn ihm der Gottesfreund nicht von Zeit zu Zeit tröstende und aufrichtende Botschaften geschickt hätte, nicht geschriebene oder gesprochene, sondern stumme, man könnte sagen geisterhafte. Und als ihm nach Jahr und Tag die Botschaft wurde, er solle wieder predigen, nachdem er durch Gottes Gnade das Licht empfangen habe, überkam ihn auf der Kanzel ein Weinen, das er nicht zu stillen vermochte, sodaß er von neuem zum Gespött der Menschen wurde. Aber allmählich gelangte er dann doch zur Harmonie mit seinem geschaffenen Grund, wie er sich ausdrückt. Und denken Sie, auch er spricht, wörtlich, von der »Vernichtigung« des Menschen gegenüber der Gottheit und der Vernichtigung des Bösen und der Vernichtigung des Todes. Vor nunmehr sechshundert Jahren! Von ihm ist ja gesagt worden, er hätte mit seiner feurigen Zunge die Erde angezündet. Nur weil er die Botschaft erhalten hat...«

Alexander schwieg, auch Kerkhoven fand es nicht notwendig, zu reden. Das Knistern des Holzes im Kamin und vor den Fenstern das leise Knacken der Zweige unter der Schneelast machte die Stille förmlich lebendig.


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