Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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35

Es nützte nichts. Malke Papier kam erst täglich, dann jeden Tag drei- viermal und forderte mit jammerndem Geschrei ihr Kind. Sie überschüttete Marie in ihrem gurgelnden Jiddisch mit Verdächtigungen und Beschimpfungen, drohte mit der Polizei und ließ durchblicken, daß das Kind um sein Seelenheil komme, wenn es noch länger in einem Christenhaus leben müsse. Man versteckte den Buben vor ihr. Man ersuchte das Fürsorgeamt um einen Schiedsspruch, da man nachweisen konnte, daß das Kind zuhause ohne Aufsicht war. Marie bot der Frau Geld, sie nahm es, blieb drei Tage unsichtbar, dann begannen die widerlichen Auftritte von neuem. Es nützte nichts, man mußte ihr das Kind ausliefern. Chaim war wie verdonnert, als es so weit war; Marie versprach ihm hoch und heilig, ihn so oft wie möglich zu besuchen. Kaum war er bei der Mutter und den Seinen, da erkrankte er an Scharlach in der virulentesten Form und schwebte tagelang zwischen Tod und Leben. In der vierten Woche trat eine Lymphdrüsenschwellung mit Vereiterung ein. Er lag in Ellen Ritters Spital, Doktor Hansen behandelte ihn und unterrichtete Marie regelmäßig über das Befinden des Kindes.

So formbar und schmiegsam fand sie keines der Kinder mehr, denen sie ein Asyl bereitete; die meisten setzten ihrem Werben eine unbesiegliche Störrischkeit entgegen. Es war nicht der einzelne, an dem sie sich vergeblich abmühte, es war immer seine ganze Welt. Und diese Welt lernte sie mehr und mehr fürchten, sie flößte ihr die Bangigkeit ein, die der gestaltete Mensch vor der amorphen Masse empfindet und wenn sie noch dazu an Josephs Wort von den »Kommenden« dachte, verzweifelte sie an der Möglichkeit, ihre Träume vor ihr zu schützen. Immer war sie die Angeklagte vor diesen unerbittlichen Kinderaugen, das kalte Grauen blieb nie hinter ihr, sie rang sich nicht hindurch, es lag vor ihr, hüllte sie ein und hatte kein Ende, so wie der Tod kein Ende zu haben scheint. Ihre Waffen waren armselig, die Hilfsmittel armselig, die Worte armselig, sie hatte nichts zu bieten, sie war selber armselig.

Eines Abends vor dem Schlafengehen kam sie mit einem Korb Äpfel in die Kinderstube, wo sich alle vor der Bettzeit zu versammeln pflegten. Jedes erhielt seinen Apfel, alsbald hörte man sie nur noch beißen und knabbern. Da fiel ihr Blick auf einen Jungen, der abseits in einem Winkel stand, als bocke er. Es war ein Sechsjähriger, hieß Kurt Muchler, Kind eines Buchbinders, der nach Argentinien ausgewandert war und die Familie mittellos zurückgelassen hatte. Marie trat auf ihn zu, den letzten Apfel in der Hand und fragte: »Na, Kurt, was ist dir denn über die Leber gekrochen?« Der Kleine ruckte mit den Schultern, wollte nicht mit der Sprache heraus, dann deutete er mit dem Daumen auf einen andern, um ein Jahr älteren Jungen, der sich mit verschmitztem Lachen an seinem Bett zu schaffen machte und stieß beleidigt hervor: »Der Walter Gieseke sagt, es giebt keinen lieben Gott. Auch einen Jesus giebts nicht, sagt er. Det es allens Mumpitz, sagt er.«

Marie schaute betroffen drein. Sie setzte sich auf einen Schemel, rief die dreizehn Kinder, auch ihre eigenen waren dabei, zu sich her, nahm den befangen sich sträubenden Walter bei den Armen und fragte: »Woher willst du denn das wissen, Walter?« Der Junge machte ein überlegenes Gesicht: so eben, das wisse man eben; wenns anders wäre, war doch alles anders. Er blickte sie herausfordernd an. Schön, räumte Marie etwas kleinlaut ein, es sei aber möglich, daß Gott trotzdem da sei und sich nur nicht allen Menschen so kundgebe, wie sie es erwarteten. Der Knabe lächelte ungläubig. Ja, schon, antwortete er schlau, darin gerade stecke ja der Mumpitz. Er hatte zuviel gesehen mit seinen sieben Jahren, er wußte zuviel...

Marie betrachtete der Reihe nach die ihr zugewandten jungen, ach so jungen Gesichter und die winzigen Gestalten, die in uniformen Schlafanzügen aus billigem blaugestreiften Kattun steckten. Und dreizehn Paar Augen waren mit der nämlichen stummen Frage gespannt und mit jener kühlen Skepsis auf sie geheftet, die die ewige Scheidewand zwischen der kindlichen Welt und der der Erwachsenen bildet. Aus ihrer vorgewußten Erfahrung heraus rufen sie diesen plumpen, lügenhaften großen Leuten ihr unbeugsames Nein entgegen, das, wortwörtlich, wie die Stimme des jüngsten Gerichtes ist. Nein, sagen sie, wir billigen euch nicht, wir trauen euch nicht, wir glauben euch nicht, nein und nein. Marie begriff. Zum erstenmal begriff sie es. Sie zog den kleinen Gottesleugner auf ihre Kniee und indes sie mit der Hand über seine Haare strich, sagte sie: »Eigentlich hast du recht, Walter. Wir wissen beide nichts genaues darüber. Aber siehst du, bevor wir uns kennen gelernt haben, du und ich, haben wir auch nichts von einander gewußt. Ich hätte ruhig sagen können, den Walter Gieseke, i wo den gibts ja gar nicht; und doch bist du da und man kann dich anfassen und wers nicht glaubt, den lachst du aus.« Ein kicherndes Gelächter entstand. Walter machte ein begossenes Gesicht. Er fühlte sich ein wenig übers Ohr gehauen, der logische Trugschluß in Maries Exegese entging ihm nicht, aber er konnte ihn nicht widerlegen und war verärgert. Auch Marie war verärgert. Sie spürte, daß sie sich über eine Schwierigkeit mit einem Trick hinweggeholfen hatte, sogar einem nicht ganz einwandfreien. Jetzt schämte sie sich dessen, erhob sich ziemlich abrupt, führte den verschlossen dreinschauenden Walter in die Mitte seiner Kameraden und Kameradinnen und da fiel ihr ein Vers ein, der ihr aus alten Zeiten im Gedächtnis geblieben war und mit eigentümlich feierlicher Stimme sagte sie ihn den Kindern vor:

»Ich bin in der finstern Welt
eine unentzündene Kerz,
sei still, streitsüchtig Herz,
ich weiß ja, wer mich hält.«

Sie sahen zu ihr auf, baß verwundert. Aber das war auch alles. Nein, es nützte nichts. So ging es nicht...


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