Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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70

Als sie am zweitfolgenden Tag im Waldhaus Dolder den Tee nahm und Kerkhoven ein paar Schritte von ihr entfernt an der Terrassenbrüstung sitzen sah, hatte sie zunächst das verwirrende Gefühl als habe sie ihn hieher bestellt. Und genau wie am vorgestrigen Abend war sie wieder in derselben unerklärlich erregenden Weise alarmiert.

Sie hatte einen noch bezwingenderen Eindruck von seiner Person. Haltung und Miene bekundeten eine natürliche Abgeschlossenheit, eine ins Unbewußte gedrungene Loslösung von Neugier, ein strenges und schweres Insichselber-Ruhen. Sie hoffte, er werde sie bemerken, dabei ärgerte sie sich über diesen Wunsch. Zu verrückt, dachte sie, was will ich denn von ihm? Ein Arzt außerdem. Sie hatte nicht viel übrig für Ärzte. Doch als sein Blick in die Richtung ging, wo sie saß und eine Viertelsekunde auf ihrem Gesicht haftete, nickte sie einen lächelnden Gruß hinüber. Unwillkürliche Bewegung, die nicht mehr als ein Zeichen des Wiedererkennens sein sollte. Er stutzte und grüßte artig zurück. Bei seinem vermeintlich bäurischen Wesen hatte sie eine so höfliche Geste kaum erwartet. Nach einer Weile erhob er sich nicht ohne Schwerfälligkeit und trat an ihren Tisch. »Frau Alexander Herzog, wenn ich mich recht erinnere?« fragte er mit der erstaunlichen Stimme, die Bettina schon allein Zutrauen einflößte. Leicht spottend korrigierte sie: »Ja, Bettina Herzog, Herr Professor.« Einen Moment lang sah er sie mit dem wie ein Instrument unter die Haut dringenden Blick an, den nur Ärzte haben. Dann bat er um die Erlaubnis, ihr ein wenig Gesellschaft leisten zu dürfen.

Das geschah zwanzig Minuten nach fünf. Und als er sich von ihr trennte, in der Halle des Hotels, wohin er sie begleitet hatte und wo sie schließlich als die einzigen Gäste in einem Winkel gesessen waren, war es fünf Minuten vor neun. Sie vergaß, daß sie nicht zu Abend gegessen hatte, ging in ihr Zimmer und warf sich erschöpft und aufgewühlt ins Bett.


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