Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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135

Nach dem nächtlichen Gespräch mit Kerkhoven hatte er weit in den Vormittag hinein geschlafen. Als er aus dem Haus trat, ging Aleid wie ein Wachtposten auf dem zum Ufer führenden Pfad auf und ab. Sie schien auf ihn gewartet zu haben, denn kaum war sie seiner ansichtig geworden, als sie stehen blieb und ihm zuwinkte. »Sie sehen ja ziemlich verkatert aus, Maestro,« sprach sie ihn an; »die Unterredung heut Nacht hat lang gedauert. Dreiviertelvier wars, wie ich Sie runterkommen hörte.« – »Soso, Sie haben aufgepaßt? da muß man sich ja vor Ihnen hüten,« antwortete er unliebenswürdig, und als sie ihm dreist forschend ins Gesicht schaute, fügte er hinzu: »Sie sind doch hier nicht als Krankenschwester angestellt, warum schlafen Sie also nicht?« – »Gott, sogar die Babies haben manchmal Grund, nicht zu schlafen,« spottete sie, »zum Beispiel, wenn sie Bauchweh kriegen.« – Sie standen am See, über dem der Nebel dick wie Fabriksrauch hing. Trotz des scharfen Ostwinds trug Aleid ein dünnes weißes Leinenkostüm. Alexander merkte, daß sie fror; er fragte, ob er ihr einen Mantel holen solle. Sie schüttelte den Kopf, schlug aber vor, sie sollten zu der Bank beim Gewächshaus gehen, wo man halbwegs geschützt saß. »Sie sehen aus wie wenn Sie was auf dem Herzen hätten,« begann Alexander, als sie Platz genommen hatten, »darf ich indiskret sein und fragen, was es ist?« – »Scharfsichtiger Mann,« entgegnete sie spitz und zündete sich mit den abstoßenden Gewohnheitsgeberden, die manche Frauen beim Rauchen haben, eine Zigarette an; »na ja, es ist ja Ihr Geschäft, die Menschen aufzuspießen wie Käfer.« Als er ärgerlich die Stirn runzelte, lachte sie. »Verzeihen Sie, ich bin wieder einmal gänzlich respektlos. Ihre Anhängerinnen haben Sie doch sicher schrecklich verwöhnt. Aber lassen Sie sich von der rauhen Schale nicht täuschen. Ich weiß schon Bescheid. Jetzt ist er wieder ungehalten!« rief sie in komischer Bestürzung aus, »was soll ich denn tun, um mir Ihre Gunst zu erwerben?« – »Ich bin nicht ungehalten,« erwiderte Alexander trocken, »und ich habe keine Gunst zu verschenken; sagen Sie mir, wo Sie hinaus wollen. Ich verstehe mich nicht auf Scharmützel.« – »Da hab ich mirs eben verscherzt,« gab sie trotzig zurück und stand auf, um wegzugehen. – Alexander faßte sie beim Handgelenk. »Bleiben Sie,« herrschte er sie an, »machen Sie keinen Idioten aus mir.« – Sie maß ihn mit großen Augen, wagte aber nicht, zu widersprechen und setzte sich wieder. Während sie sich erhoben hatte, war sein Blick auf ihre zarte Gestalt gefallen, an der sich bereits deutliche Merkmale der Schwangerschaft zeigten. Sie hatte seinen Blick aufgefangen, ihre Züge verfinsterten sich, um ihren Mund zuckte es weh. Alexander war verlegen. Es tat ihm leid, sie so angefahren zu haben. »Sie benehmen sich wie ein Gassenbub, der einem mit dem brennenden Zündholz vor der Nase herumfuchtelt,« murmelte er verdrießlich, »seien Sie doch ein bißchen gelassener, ein bißchen ruhiger.« – »Ach was,« antwortete sie, und die Smaragdaugen schauten leer ins Leere, »ersparen Sie sich die Ermahnungen. Das geht bei mir zum einen Ohr hinein, zum andern hinaus. Danke übrigens für die gute Absicht.«

Eine Pause entstand. Plötzlich kehrte sie ihm das Gesicht voll zu und fragte: »Waren Sie wirklich bei Onkel Joseph heute Nacht?« – Er starrte sie erstaunt an. »Wo denn sonst? wo soll ich gewesen sein?« – Sie lächelte eigentümlich. Ihr grüner Blick bohrte sich in seine Augen. – »Nun, was ists?« drängte er neugierig, »was dachten Sie denn?« – »Ich dachte, Sie seien zu meiner Mutter gegangen,« flüsterte sie, immer mit dem eigentümlichen, halb schamvollen, halb boshaften Lächeln. – »Zu Ihrer Mutter? Um halb zwei Uhr nachts?« Das Erstaunen machte ihn fast sprachlos. »Warum denn? Warum sollte ich Ihnen dann gesagt haben...« – »Warum, warum,« unterbrach sie ihn ungeduldig, »das braucht doch nicht bequatscht zu werden. Will ich gar nicht. Die Tatsache genügt. Ich hab doch meine Augen im Kopf.« – Alexander sah sie an als habe er nicht recht gehört. Unwillkürlich rückte er von ihr weg. »Toll,« sagte er vor sich hin, »toll.« Er nahm wahr, daß sie am ganzen Körper zitterte. Auch ihre Hände, die nervös mit einem abgerissenen Zweig spielten, zitterten. – »Kreiden Sie mirs nicht an, wenn ich Unrecht habe,« fuhr sie mit hastiger Stimme fort, den Kopf gesenkt; »Sie müssen wissen, meine Mutter, die ist ein versiegeltes Buch für mich. Und wenn man das Siegel aufbrechen will, ist es wie wenn Todesstrafe draufstünde. Sie hat eine Art Bemühung im Leben... man fühlt sich glatt zermalmt... eine Heilige... man möchte gern dran glauben... ich hab aber Heilige immer gehaßt... und eine Mutter darf nicht so hoch über einem stehen... trotzdem... wenn es echt wäre... wenn man die Heilige wirklich glauben könnte...« Sie stockte, beugte den Kopf noch tiefer, und ihre Schultern bebten verräterisch. – Alexander streichelte ihren Arm. »Aber Kind, Kind,« sagte er leise, »wohin verirren Sie sich, worein verwirren Sie sich...!« – Sie machte eine Bewegung um sich seiner Hand zu entziehen. »Ich muß Ihnen was erzählen,« sprach sie weiter, »vielleicht ist es schlecht von mir, aber Sie begreifen dann wenigstens... Vor zwei Jahren... etwas länger... im Sommer waren es zwei Jahre... wir hatten damals noch das Gut Lindow in der Mark... ich war zu den Ferien mit einer Freundin zuhause... und da war auch ein junger Kerl, ein sehr hübscher Mensch, Schüler oder Sekretär von Onkel Joseph, wenn ich mich recht erinnere... zwischen ihm und der Mutter ging irgendwas vor, irgendwas Unheimliches, Verbotenes... so empfand ichs damals, ich war ja noch ein Frosch... die Mutter hatte vollständig den Kopf verloren... eines Tages fing der junge Mensch an, meiner Freundin den Hof zu machen, aus Bosheit, glaub ich, um meine Mutter zu quälen... und sie... ich habe nie vergessen können... zu verrückt war das... zu furchtbar... sie merkte nicht, daß wir alles merkten... dann wurde sie krank, wir mußten weg... ich sehe noch Onkel Joseph am Fenster stehen; es war am Morgen meiner Abreise, er hörte gar nicht, wie ich ihm Adieu sagte... wie ein Stein stand er da, zur Mutter durft ich nicht hinein... ich hatte den Eindruck, sie haßte und verwünschte mich... und jetzt, nach zwei Jahren, ich hatte mittlerweile allerlei gelernt, das dürfen Sie mir glauben... jetzt... eine ungeheuer fremde Frau, eine Frau vom Mond, eine Heilige! Ich im Fegefeuer drin, und sie eine Heilige...!« Sie riß ihr Taschentuch aus dem Ärmel und zerknüllte es in der Faust.

Alexander saß regungslos da. Die fieberhafte Erzählung des jungen Mädchens warf ein unerwartetes Licht auf das Geständnis, das ihm Joseph Kerkhoven neulich in dem kleinen Sprechzimmer gemacht. Obgleich er den Einblick in die Vergangenheit der beiden ihm so nahen Menschen um nichts hätte missen mögen, war es ihm doch peinlich, daß er jenen Teil des Aufschlusses, der Marie betraf, von Maries Tochter empfangen hatte, und er beschloß im stillen, es der Freundin nicht zu verhehlen. Er durfte ihr ein Wissen nicht vorenthalten, das er sich hinter ihrem Rücken, so konnte sie es auffassen, verschafft hatte, wenn es ihr auch in seiner Meinung und Schätzung nicht schadete; im Gegenteil, sie stieg noch höher dadurch in seinen Augen, sah er doch fast visionär den schweren Weg, den sie gegangen war.

Mitten in dem Schweigen, in das sie beide versunken waren, erinnerte er sich plötzlich einer scheinbar unbeträchtlichen Einzelheit aus seinem kurzen Zusammensein mit Aleid in der Nacht. »Etwas müssen Sie mir erklären,« begann er zögernd; »wenn Sie schon diesen sträflichen Argwohn hegten, als ich Sie bat, mich ins Haus zu lassen, warum haben Sie mir dann beim Weggehen so freundlich, so besonders nett die Hand hingestreckt?« – »Wirklich, hab ich das getan?« fragte Aleid etwas unaufrichtig betroffen, »komisch. Das weiß ich gar nicht mehr. Komisch.« – »Sie werden es schon wissen,« fuhr er fort, ohne sich an ihren Ableugnungsversuch zu kehren, »aber Sie brauchen sich nicht zu bemühen, ich glaube, ich kenne den Grund. Sie haben ja die ganze Zeit darauf gewartet, daß die Heilige vom Altar gestürzt wird, obgleich es eine Katastrophe für sie gewesen wäre, und in mir haben Sie dann das Werkzeug gesehen, den Erfüller Ihres... Ihres Qualwunsches. Hab ich nicht Recht?« – »Ins Schwarze getroffen,« höhnte Aleid, »hoch die Psychologie!« – Aber Alexander ließ sich von dem Hohn nicht täuschen. Er spürte, was dahinter lag. »Heilige... es mag schon was dran sein,« sprach er weiter; »Ihre Mutter hat sich durch das Trübe gerungen, durch die Leidenschaften und die Irrtümer. Was das in Wirklichkeit bedeutet, an Verzicht, an Mut, an Seelenkraft, das können Sie schwerlich ermessen...« – »So wenig wie sie ermessen kann und ermessen will, was mir geschehen ist!« warf Aleid schneidend dazwischen. – Alexander Herzog nickte bedächtig. »Das sieht vielleicht so aus. Ich gebe zu, Ihr Schicksal, so viel ich davon weiß...« – »Von der Mutter natürlich...« – »Ja, von Ihrer Mutter. Wir sind Freunde, und sie vertraut mir. Ihr Schicksal, Aleid, ist für mich gewissermaßen ein Symbol. Sie werden sagen: was nützt mir das groß? Na ja, der Mensch wehrt sich gegen das Zeichen, das über ihm schwebt, keiner will einen Kollektivschmerz erleiden, lieber noch das Übermaß an Einzelschmerz. Das rebelliert in Ihnen, das macht Sie so wild, und deshalb finden Sie sich auch als Kind, als Tochter, von Ihrer Mutter nicht erkannt oder anerkannt. Ich weiß nicht, ob ich mich klar genug ausdrücke. Marie Kerkhoven ist nämlich eine Frau... wie soll ich es sagen... ihr tragischer Konflikt ist, daß sie zwischen Weltbindung und Gottbindung mitteninne steht: unter schweren Opfern hat sie sich Schritt für Schritt hinaufgekämpft, wie ein Flieger die Wolkendecke durchstößt, und da kommt auf einmal die erwachsene Tochter und reißt sie mit Übergewalt zurück ins schmerzvoll Dunkle. Und sie muß zurück, da hilft nichts, schon aus Liebe muß sie zurück, nur ist sie selbstverständlich ein wenig benommen, ein wenig ratlos. Das ist es, was Sie fälschlich das Madonnenhafte nennen. Und dann, bedenken Sie, das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter hat immer, wenn man tief genug schürft, einen Eifersuchtsgehalt, ganz elementar. Der Geist und der Charakter sind da ohnmächtig gegen die Natur, die ja ohnehin alle möglichen Hülsen und Schalen drumherum wachsen läßt. Zumal in Ihrem Fall; als Kind sind Sie von ihr weggegangen, als Weib kehren Sie wieder... verstehen Sie das nicht?«

Aleid hatte mit großer Aufmerksamkeit zugehört. »Das hat alles was für sich,« sagte sie widerwillig, und dann mit grellem Auflachen: »Außerdem... ich wäre wahrscheinlich auch nicht gern Großmutter von einem Judenbankert.« Auf einen entrüsteten Blick Alexanders knirschte sie mit zusammengebissenen Zähnen und einer Geste als wolle sie sich den Bauch aufschlitzen: »Ich wills nicht, ich wills nicht, ich brings um, wenn es auf die Welt kommt... Hat doch nicht mal einen Vater, und ich? Ich bin ja bloß ein Scherben...« Sie stand auf, seltsam ruhig auf einmal, und ging, ohne Gruß, ohne Nicken, über den Rasen dem Haus zu.


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