Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Sie holte Kerkhoven von der Bahn ab. »In früheren Jahren waren solche Reisen ein Kinderspiel für mich,« sagte er; »jeden Monat war ich mindestens zweimal tagelang unterwegs. Heute... nicht als ob ich müde wäre, durchaus nicht, aber das Verhältnis zur Zeit hat sich verändert. Vielleicht weil man immer ärmer daran wird. Vielleicht weil man die Selbsttäuschung merkt, die im Abspinnen der Lebensgeschäfte liegt.« – »Müde kann man sich Sie nicht denken,« sagte Bettina. – Er lachte. »Nein, ich war immer betriebsam,« entgegnte er, »bei mir war der Fleiß fast ein Laster. Ausruhen, das hieß schon ein schlechtes Gewissen haben. Kein Programm, kein Ziel vor sich sehen, von keiner Spannung getragen werden, eine Stunde lang von Menschen nicht gebraucht werden, und schon war der Tag wertlos, schon stand die ganze Existenz vor einem wie ein abgebranntes Haus.« – »Genau mein Fall,« sagte Bettina. – »Schlimm, schlimm, Frau Bettina. Ich habe gelernt zu atmen. Wissen Sie, was das heißt: mit seinem ganzen Selbst atmen? Sie müssen es auch lernen.« – »Wenn Sie mich unterrichten wollen, wie gern.«

Sie führte ihn in sein Zimmer. Als sie mit ihm durch die offene Tür auf den kleinen hölzernen Balkon trat und sich die zauberische Landschaft mit See und Wald und Felsgebirge und dem fernen krönenden Gletscher vor ihnen ausbreitete, konnte Kerkhoven einen entzückten Ausruf nicht unterdrücken. »Na, da haben Sies aber herrlich,« sagte er, »da läßt sichs schon aushalten.« – »O ja,« erwiderte Bettina, »jetzt, im Frühling und an einem Tag wie heut. Aber bedenken Sie, fünf oder sechs Monate Winter, manchmal wochenlang kein Strahl Sonne, feuchte Kälte, feuchte Nebel, weit und breit kein Mensch, mit dem man ein vernünftiges Wort reden kann, immer mit sich und seinem Jammer allein, der Mann vergraben in seine Arbeit... aber was ist denn das,« unterbrach sie sich ungeduldig, »ich lamentier Ihnen schon wieder was vor, das geht absolut nicht.« – »Nun, nun,« beschwichtigte er freundlich, »mir gegenüber brauchen Sie sich nicht zusammenzunehmen. Sollen es auch nicht. Sagen Sie nur alles, wozu es Sie treibt. Es wird Ihnen gut tun. Denn sehen Sie, das ewige Sichzusammennehmen führt unvermeidlich in die Gepreßtheit, in die Abschnürung, in die Lebensangst.« – »Das ist wahr,« sagte sie, »schrecklich wahr.«

Dann zeigte sie ihm ihr Arbeitszimmer, auf das sie stolz war, denn sie hatte es im Lauf der Jahre mit vielen schönen Dingen geschmückt, die sie gesammelt oder geschenkt bekommen hatte, alten Möbeln, chinesischen Farbdrucken und Vasen, Landschafts- und Blumenbildern, gutem Porzellan. Die Wände waren mit einer französischen Tapete aus dem zweiten Empire bekleidet, mit Engel- und Blumenvignetten auf türkisblauem Grund, weshalb es das blaue Zimmer genannt wurde. Überall herrschte jene stäubchenlose Sauberkeit und Aufgeräumtheit, die so wohltuend in die Augen fiel und für Kerkhoven nun schon zum Bild Bettinas gehörte. Der geräumige Schreibtisch war bedeckt von Papieren, und als Bettina zum Telephon gerufen wurde, der Apparat befand sich, wie er unzufrieden feststellte, bezeichnenderweise in ihrem Schlafzimmer, warf er einen Blick auf die Stöße von Skripturen. Es waren Advokatenbriefe, Gerichtsbriefe, Vorladungen, Exekutionsformulare. Als Bettina wieder ins Zimmer trat, etwas blasser und sichtlich erregt, blieb er ruhig an seinem Platz stehen und sagte: »Ich bin indiskret, wie Sie sehen. Aber es ist mein Beruf. Und das alles, Frau Bettina, obliegt Ihnen?« – »Das alles obliegt mir. Alexander hat längst den Überblick verloren, abgesehen von... Es gibt keine ruhige Stunde mehr. Ich kämpfe mit Nägeln und Zähnen. Um den Mann, um das Kind, um das Haus, um die Zukunft... Es ist mir nicht an der Wiege gesungen worden, daß ich mein Leben in dem Kampf mit Anwälten, Behörden und einer... ach, ich weiß kein Wort... würde zusetzen müssen. Jetzt eben...« Sie verstummte, denn die Tür ging auf, und Alexander Herzog erschien, rasiert, gebadet, angekleidet. »Alexander, du!« rief sie freudig erstaunt. – »Ich wollte doch unsern Gast begrüßen,« sagte er etwas schüchtern und ging mit ausgestreckter Hand auf Kerkhoven zu. – »Ich bin sehr froh, Sie zu sehen,« sagte Kerkhoven.


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