Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Auslöschung Gannas: daran arbeitete Kerkhoven unablässig; Vernichtigung, wie er es genannt hatte. Doch hinter jeder Schwierigkeit, die er beseitigt, erhob sich eine neue. Alexander Herzog war ein Mensch mit unglaublich vielen Hintergründen, so einfach er erschien. Wenn sich einer nach dem andern eröffnete, war es, wie wenn sich in langer Folge zahllose Türen auftun, die zuletzt ins nicht mehr Erforschliche führen, in die Weltraumschwärze. Und er stand harmlos da, immer ein wenig verzaubert, immer ein wenig tierhaft, nichts von sich wissend. Die Gannaverklammerung war so tief in seiner Seele, mehr noch in seiner Phantasie verlagert, daß keine Macht des Wortes dagegen aufkommen konnte. »Wenn ich zehn Jahre lang zu vergessen vermöchte, dann vielleicht,« sagte er. Kerkhoven wußte natürlich, daß man eine Wunde nicht durch Besprechung heilen kann. Er hatte hier mit einer unverfälschten Erkrankung der Phantasie zu tun, in solcher Ausschließlichkeit und Abgegrenztheit etwas sehr Seltenes. Es gab dagegen keine irgendwo angedeutete oder praktizierte Therapie. Es gab nicht einmal den Begriff. Die Kategorien waren in dieser Hinsicht verwischt, weil die Forschung noch in den Anfängen steckte. Das einzige Mittel war, Erscheinung gegen Erscheinung zu setzen. Er mußte ein neues Bild von Ganna aufbauen. Mit dessen Hilfe hatte er einen doppelten Nachweis zu erbringen: erstens den der Unwesentlichkeit, ja Unwesenhaftigkeit Gannas (den er zum Teil schon erfolglos versucht hatte); zweitens den der innerlichen Gesetzmäßigkeit des Erlebnisses für Alexander Herzog, das heißt, daß es nur die Stufe bildete zu einer höheren Entfaltung, die Möglichkeit zum Aufstieg, der in der ganzen Anlage seines Lebens vorgesehen war. Er war sogar kühn genug, bei dieser Gelegenheit von der Begnadung durch das Leiden zu sprechen.

Alles dies stieß jedoch auf erhebliche Schwierigkeiten, von denen die sinnliche Triebhaftigkeit Alexanders, seine Abhängigkeit von Lust und Unlust und seine rein psychologische Einstellung zu den Erfahrungen des Lebens nicht die geringsten waren. Marie hatte das vollkommen richtig erkannt. Sie sagte ihm einmal: »Man darf sich nicht auf das Böse in der Welt verlegen, man muß sich auf die göttliche Kraft zurückziehen.« Für ihn waren das vorläufig leere Worte. Wenn Ganna nicht das Böse war, warum hatte sie ihn dann zu Boden schlagen und entmannen können, ihn, der noch vor zwanzig Jahren den Kampf mit der gesamten Hölle aufgenommen hätte. »Ich war im Grunde ein heiterer Mensch,« rief er aus, »ein zuversichtlicher, ohne Bruch, ohne Schicksals- und Zukunftsangst.« – »Und arm,« fügte Kerkhoven hinzu, »besitzlos. Vergessen Sie das nicht.« – »Nicht Ganna hat mich zu einem Besitzenden gemacht,« versetzte er irritiert. – »Doch. Gerade Ganna. Es war eine reaktive Wirkung.«

Die logische Folgerung ergab sich von selbst: Ganna, die Zeitgebundene, der Zeit Entsprossene, Exponent der bürgerlichen Ära, in nichts artverschieden von der Bankiersfrau Soundso, der Rechtsanwaltsgattin X und der Regierungsrätin Ypsilon, nicht einmal von dem Dienstmädchen, das mit ihrem Verführer um die Alimente prozessiert. »Das haben Sie ja auch ebenso kräftig wie überzeugend dargestellt,« hielt ihm Kerkhoven vor. – »Dennoch ist es nicht ganz richtig, was Sie sagen,« antwortete er, »in Gannas Ursprüngen lag es nicht, vielleicht in der Bestimmung, soweit ich darin einbezogen bin.« – »Einbezogen in die Jahre, gewiß einbezogen in den Verfall einer Gesellschaft, in die Atrophie des Herzens, mit der wir heute, soviel ich sehe, an den Grenzen der Menschheit stehen.« – »Da wäre Ganna nur ein Glied in der Kette...?« – »Wenn Sie es historisch betrachten, ja. Biographisch genommen, als Funktionärin in einem Gruppenschicksal, der Gruppe Ganna-Alexander-Bettina, hatte sie die Aufgabe der Unruhe im Uhrwerk, verstehen Sie mich? Man könnte sich vorstellen, daß es mittelst einer fortgesetzten Reihe von Schmerzen geschieht, durch die die kleinen Zahnrädchen in Gang erhalten werden und das Wunder der Zeitkündung vollbringen. Können Sie sich das nicht denken? Ein bißchen verrückt, ich gebs ja zu.« Er lächelte listig. Alexander starrte ihn perplex an. Der Gedanke erschien ihm wirklich verrückt, doch sonderbarerweise ging eine Erleichterung von ihm aus, es steckte eine kaum definierbare Wahrheit drin, nämlich eine, vor der sich die ganze Schuldfrage plötzlich verflüchtigte.

Denn das Schuldgefühl war der Wall, den Kerkhoven nicht erstürmen und hinter den er nicht dringen konnte.


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