Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Wie im Mysterienspiel hinter den Figuren, die um den göttlichen Glauben ringen, der Leugner und Widergeist lauert, um von Zeit zu Zeit sein Hohnwort erschallen zu lassen, war es hier Aleid Bergmann, die vom Schicksal Zertretene, in welthassende Bitterkeit Geflüchtete, die den heroischen Kampf der vier engverbundenen Menschen mit kritischen Augen und vorsätzlicher Verstocktheit verfolgte. Schon ihr heimliches Kommen und Gehen war Protest, mehr noch die trotzige Neugier, mit der sie dasaß und zuhörte, ohne jemals den Mund aufzumachen. »Was soll das alles?« fragte sie ihre Mutter, »ich kann mir absolut keinen Vers darauf machen. Es ist wie in einer Kirchenversammlung. Nächstens werdet ihr fromme Lieder singen da oben.« – Marie antwortete gereizt: »Entweder bist du eine raffinierte Heuchlerin oder du weißt nicht, was du tust.« – »Warum? was soll das heißen?« – »Wann war es nur... vor ein paar Tagen erst... Joseph erzählte den Herzogs die ganze Irlengeschichte... den Tod des Freundes, und wie er ihm nachgestorben und förmlich wieder auferstanden ist... erinnerst du dich? du hast durchaus nicht ausgesehen wie jemand, der lieber bei einem Boxkampf wäre als bei einer Auseinandersetzung, bei der es ums Leben geht. Durchaus nicht. Du schienst mir eher benommen davon.« – »Najaaa...« machte Aleid gedehnt und leicht verlegen, »das war aber auch richtig spannend. Außerdem hat es mich genealogisch interessiert. Irlen war doch ein naher Blutsverwandter von dir, soviel ich weiß. Und die Art, wie Onkel Joseph es erzählt hat, war prachtvoll. Gruselig geradezu. Er bringt alles so gut, wie sie beim Theater sagen.« Sie lachte.

Es war nicht der einzige Fall, wo sie wie ein Aal entschlüpfte, wenn Marie sie stellen wollte. Man konnte nie ergründen, was sie empfand. Daß die Abende im Refektorium sie unwiderstehlich anzogen, war offensichtlich. Trotzdem kam sie nie ohne ein mokantes Lächeln auf den Lippen. Manchmal gab sie sich den Anschein als schlafe sie ein vor Langeweile, aber wenn dann Alexander Herzogs verwunderter Blick sie traf oder Bettina sie mit nicht ganz ehrlicher Besorgnis fragte, ob sie sich nicht zur Ruhe begeben wolle, wurde sie rot bis an die Schläfen und fing an, verzweifelt die Fingernägel zu zernagen. Gewöhnlich kauerte sie in einem der äußersten Winkel des Raumes, auf einem Kissen auf dem Boden oder, wie eine Katze zusammengerollt, auf einer Sofabank, um die Schultern einen weißen, indischen Schal, den ihr Marie geschenkt. Hie und da richtete sie sich jäh zum Sitzen auf und starrte, die Hand wie einen Schirm vor den Augen, eine halbe Minute lang zu den Andern hinüber, um sich dann wieder einzurollen, schweigend und scheinbar teilnahmslos.

Am bissigsten machte sie sich über die Leidenschaft ihrer Mutter für die fremden Kinder lustig. »Diese Kinderbewahranstalt en gros ist wahrhaftig das Lächerlichste, was ich je gesehen habe,« sagte sie. Der Umstand, daß sich die Kinder in immer wachsenden Scharen in Seeblick einfanden, daß sie oft von weither kamen, von Hörhausen, von Wäldi, von Münsterlingen und noch weiter als hätte ein neuer Rattenfänger von Hameln sie gelockt und bisweilen richtige Schlachten stattfanden, wenn die Mehrzahl zurückgewiesen werden mußte, das trieb Aleids galligen Ärger auf die Spitze, und als ihr gar das Wort vom Kinderheiland zugetragen wurde, schüttelte sie sich vor Gelächter. Es war aber ein schmerzliches Lachen und hatte wie alles an ihr einen Hintergrund von Verheimlichtem und Verwildertem.

Bettina ging sie so viel als möglich aus dem Weg. Sie habe kein faible für Frauen, pflegte sie zu sagen, besonders nicht für so gescheite. Doch als sich Bettina einmal auf Kerkhovens Bitte bewegen ließ, mit einem jungen Musiker, der von Badenweiler herübergekommen war, die Kreuzersonate zu spielen, hörte sie zu wie verhext, und während des Satzes mit den Variationen zuckte ihr Gesicht fortwährend wie das einer Epileptikerin. »Ich habe nicht geahnt, daß Ihre Frau eine solche Künstlerin ist,« sagte sie zu Alexander Herzog, »warum stellt sie ihr Licht unter den Scheffel, tut nie dergleichen und macht sich klein? Ich glaube, Sie drücken sie, sie traut sich nicht aus sich heraus, oder sie ist zu stolz, sich zu zeigen. Nein?« Alexander fand die Bemerkung taktlos und erwiderte ärgerlich, davon sei ihm nichts bekannt, Bettina lege keinen Wert auf die übliche Darbietung, sie betrachte ihr Talent als integrierenden Teil ihres Wesens und Lebens. Wozu Aleid eine zweifelnde Grimasse schnitt.

Im übrigen begegnete sie Alexander Herzog nicht mit jenem kalten Mißtrauen, das sie sonst gegen alle Menschen herausfordernd zur Schau trug. Manchmal schien es als dränge es sie in seine Nähe, und ohne bestimmten Zweck. Seine Schweigsamkeit war ihr angenehm, und wenn sie mit ihm sprach, hatte sie oft einen gewissen Spießgesellenton, der ihn ergötzte; schließlich war er ja vierzig Jahre älter als dieser Knirps. Die Freundschaft, die ihn mit Marie verband, machte ihr offenbar viel zu schaffen. Auf alle Weise suchte sie ihn darüber zum Reden zu bringen und war wütend, wenn er ihr auswich. Allmählich gewann er den Eindruck, daß nichts auf der Welt sie in solchem Maß interessierte wie das Tun und Lassen ihrer Mutter, aber da sie außerordentlich geschickt im Verbergen ihrer Gefühle und Absichten war, wurde ihm nicht klar, was sie aus ihm herausholen wollte. Und eines Tages, der Anlaß war sonderbar genug, wurde diese Unklarheit beseitigt. Sie hegte in Bezug auf ihn und Marie einen absurden Verdacht, der sie heimlich zu beschäftigen und zu quälen schien.


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