Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Drittes Buch:

Joseph und Marie
oder
Die Glaubenswelt

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Das Revisionsverfahren gegen Karl Imst und Jeanne Mallery war rascher in Gang gekommen als irgend jemand der Beteiligten hatte hoffen können. Es war eine ganze Partei am Werk gewesen. Ein bernischer Anwalt hatte sich seit sechs Jahren unermüdlich damit befaßt, die Unschuld des verurteilten Paares nachzuweisen. Die Bekundungen der Hellseherin fielen als juristisch unkontrollierbare Einflüsse nicht ins Gewicht, obwohl die neuen Tatsachen, die dadurch ans Licht gekommen waren, die Auffindung der Giftschachtel, die Feststellung der Liebesbeziehung zwischen der verstorbenen Selma Imst und einem zwanzigjährigen Studenten, die Grundlage für das Wiederaufnahmeverfahren bildeten. Die Assisen traten bereits am fünften Juni zusammen, und am siebenten erfolgte der Freispruch. Imst und Jeanne Mallery wurden wieder in ihre bürgerlichen Rechte eingesetzt, auch wurde jedem von ihnen eine beträchtliche Geldentschädigung zugesprochen, damit sie sich eine neue Existenz aufbauen konnten.

Als Schwester Wys-Wiggers die Nachricht erhielt, wurde sie vor Freude ohnmächtig. Marie, die in den letzten Wochen ganz im Dienst dieser Sache aufgegangen war, konferiert und korrespondiert hatte, fühlte sich unendlich erleichtert. Von ihr ging die Anregung aus, den beiden für die nächste Zeit im Hause Seeblick ein Asyl zu gewähren. »Die wissen doch sicher nicht, wohin sie den Fuß setzen sollen,« sagte sie zu Kerkhoven; »sie haben alles verloren, ihr Heim, ihre Freunde, den Zusammenhang mit der Welt, vielleicht können sie sich nicht einmal mehr mit den Menschen verständigen.« Kerkhoven stimmte ihr zu. Er schrieb an den Direktor des Strafhauses in Langenau sowie an Karl Imst; Schwester Else legte einen Brief an den letzteren bei. Nach zwei Tagen kam die Antwort. Imst nahm die Einladung, auch im Namen seiner Gefährtin, dankbar an. Am achten fuhr Kerkhoven mit Schwester Else nach Langenau, um die beiden abzuholen. Sie wurden in den Zimmern einquartiert, die Mordann und seine Tochter bewohnt hatten.


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