Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Er hatte noch vier Tage Zeit bis zur Abfahrt des Schiffes. Im badischen Freiburg unterbrach er die Reise nach Rotterdam, um einen Jugendfreund zu treffen, der an der Universität habilitiert war. Er aß zu Mittag in einer Weinstube mit ihm, dann verabredeten sie sich noch für den späten Abend. Als er zu seinem Hotel ging, las er auf einer Litfaßsäule die Ankündigung eines Vortrags von Alexander Herzog, einem Schriftsteller, der ihn seit Jahren interessierte und dessen Bücher er zum großen Teil kannte. Da die Veranstaltung am selben Abend stattfand und er Zeit hatte, ging er hin. Vorspiel einer Begegnung, die von weittragenden Folgen sein sollte.

Es war keine Rede über ein bestimmtes Thema, wie er erwartet hatte, sondern die beinahe freie Rezitation einer Geschichte, wobei die erzählerische Illusion dadurch verstärkt wurde, daß sie im Ichton gehalten war. Ein Bauer bezichtigt sich des Mordes an seinem einzigen, spätgeborenen Sohn und begründet die Tat mit seiner unabänderlich gewordenen Einsicht in die Mißratenheit des Erben seines Namens und Besitzes. Im Verlauf eines dramatisch erregten Verhörs bringt ihn der Untersuchungsrichter, der zugleich der Erzähler der Begebenheit ist, zu dem Geständnis, daß die Selbstbeschuldigung falsch war, daß der Sohn sich aus eigenem Entschluß umgebracht hat, gänzlich vernichtet vom Leben an der Seite des starr-unnahbaren Vaters, und daß der Bauer die Schuld auf sich genommen, weil er sich nach der letzten Aussprache mit dem Sohn, die ihm die Augen geöffnet, als seinen seelischen Mörder betrachten muß.

Kerkhoven lauschte gespannt. Das Problem schlug in die Gedankenwege, auf denen er sich in der letzten Zeit tastend bewegt hatte. Recht auf Leben und Tot des Andern. Befugnis, unwertes Leben auszuscheiden, wenn seine Schädlichkeit erwiesen, der sittliche Endzweck des Richtenden über jeden Verdacht erhaben ist. Revolutionäre Umwälzung der geltenden Gesetze und Anschauungen vor allem für den Arzt, denn sie betraf die Heiltätigkeit am Gesamtleib der Gesellschaft und hatte wenig mehr zu tun mit gewissen gängigen Theorien von Eugenik und Sterilisation. Höchst gefährliches Experiment freilich, wollte man es ausführen, verbrecherisch geradezu ohne die Sicherstellung selbstloser Läuterungsabsicht. Und wo blieb dann der paracelsische Arzt der Barmherzigkeit? Versunkenes Ideal; wenn es wieder auferstehen sollte, mußte eine mildere Zeit anbrechen, eine, in der die Menschen wieder knien und beten konnten. Offensichtlich ging es in der Herzogschen Erzählung um Wert und Rang des Einzellebens, denn der Sohn verübte ja nur deshalb Selbstmord, weil der Vater es durch seine übermächtige Persönlichkeit verstanden hatte, das Bewußtsein seines Unwerts und damit den Todeswillen in ihm zu erzeugen. Das wäre immerhin ein Fingerzeig, dachte Kerkhoven, es scheint, die Dichter sind unsere Schrittmacher.

Noch stärkeren Eindruck als das Werk machte auf ihn der Autor selbst. Alexander Herzog war ein Mann von mittlerer Größe und einer angenehm sonoren Stimme. Er hatte schwere dunkle Augen und verhaltene Gesten. Er war nahe den Sechzig, sah aber aus als wäre er kaum fünfzig. Das Auffallendste an seinem Gesicht war die Stirn. Sie war so hoch und beherrschend, daß sie im Vergleich mit den übrigen Teilen wie ein künstlicher Aufbau wirkte. Die Züge waren durchtränkt von einer schmerzlichen Melancholie. Dadurch bekamen sie den Ausdruck ununterbrochener, von innen her regierter Bewegung, und es entstand das Bild eines geistig leidenden und sinnlich verstrickten Menschen, der in der Welt ebenso gefangen war wie in sich selber, jedoch augenscheinlich immer wieder Fluchtmöglichkeiten fand, um einem Dämon zu entrinnen, der ihn gezeichnet hatte, sichtbar für jeden, der sehen konnte. Dieses Bild wurde je eindringlicher, je länger Kerkhoven dem Manne zuhörte und unter dem Bann seiner Rede stand. Es grub sich so tief in sein Gedächtnis, daß er es nicht mehr vergessen konnte. Es begleitete ihn übers Meer, es tauchte bisweilen während seiner Fahrten und Wanderungen auf Java mit erstaunlicher Lebendigkeit vor ihm auf, und wir werden erfahren, daß darin etwas wie vorbestimmte Verkettung lag.


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