Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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9

Der Ernst dieses Zustands blieb Marie nicht verborgen. Sie erriet, was in dem Mann vorging. Sie kannte ihn besser als er selbst sich kannte. Sie wußte seine entlegensten Gefühle zu deuten, mit visionärer Sicherheit oft. Sich an ihm aufrichten zu können, war der einzige Hoffnungsstrahl in ihrer Verzweiflung gewesen. In mystischer Zuversicht hatte sie der Kraft seiner Natur vertraut, der felsenhaften Unerschütterlichkeit, die er so häufig und unter den schwierigsten Lebensumständen bewiesen hatte. Nun, da sie ihn wanken und einem Phantom nachjagen sah, haltsuchend bei ihr, die selber keinen Halt mehr hatte, waren ihre Betrübnis und Enttäuschung grenzenlos.

Statt Hilfe zu empfangen, hatte sie Hilfe zu spenden. Welche Hilfe? Naturgemäß eine, die das Leiden aufhob in seinem Kern. Sie spürte, wonach er begehrte. Der weibliche Instinkt in ihr war so entwickelt, daß sie trotz der Erschöpfung ihrer Sinne, dem tödlichen Schweigen jedes erotischen Verlangens den Aufruhr in seinem Innern rhythmisch mitempfand, diese bohrende Sucht, sich als Mann zu bewähren, die, wenn sie nicht gestillt wird, zu einer Erkrankung des Selbstbewußtseins führt und das Geschlechtswesen in seinen Wurzeln angreift. Ihr war es nicht um körperliche Liebe zu tun; ihr Blut war unbewegt wie das Wasser in einem Schacht; nur dienen konnte sie dem Freund und Gefährten, sich ihm hingeben wie einem Freund eben, mit dem man alles zu teilen vermag, und ihn so, mit List und Selbstopferung, aus der verderblichen Spannung lösen. Das bißchen Verstellung, das sie hiezu anwenden mußte, kostete keine große Mühe; als Frau beherrscht man das Spiel, und sich davon nicht betrügen lassen, sind nur wenige Männer imstande.

Der heroische Entschluß war aber nicht bloß vergeblich, sondern steigerte das Unheil noch. Es geschah, was dem verblendeten Willen immer geschieht, wenn er sich eine Fähigkeit zutraut, die ihm der Körper verweigert. Der Reiz überwog die Kraft. Der Zweck lähmte die Funktion. Die Folge war Niederlage auf Niederlage. Die ganze Schmach war nun offenbar. Jetzt war er als Mann endgiltig geschlagen. Doch wollte er sich nicht für geschlagen erklären, und das gab seiner Ohnmacht einen Zug ins Selbstmörderische. Er glich einem Ringer, der sich mit hohem Fieber zum Zweikampf anschickt und das Fieber für einen besondern Beweis seiner Unbesiegbarkeit hält. Das Schauerliche war, daß er das Gefühl nicht los wurde, sich mit einem Gegner messen zu müssen, von dem er sich wie von einem Spion beobachtet wähnte und von dessen Stärke er, durch Maries Andeutungen aufs höchste irritiert, förmliche Wahnvorstellungen hegte. Er, der Neunundvierzigjährige, wollte den Dreiundzwanzigjährigen herausfordern und es ihm gleichtun, dem spurlos von der Bildfläche verschwundenen, feig geflüchteten Rivalen; denn so sah er ihn, so dachte er über ihn. Aber das Bestreben, seinen Charakter zu verkleinern und zu verzerren, half nicht dazu, seiner Herr zu werden und ihn aus dem Gedächtnis und aus dem Blut Maries zu tilgen. Das war die zugrunde liegende fixe Idee; als ob es erreicht werden könnte, daß Marie von dem Tausch nichts bemerkte, als ob das leidenschaftliche Erlebnis ihrer Sinne einfach mit ihm, dem Gatten, fortgesetzt werden könnte wie man eine Kartenpartie mit einem neuen Partner fortsetzt und Marie nicht nur dazu bereit wäre, sondern auch sich nichts Besseres wünsche. Ein Irrtum immer kläglicher als der andere.

Es war eine unsägliche Folter für Marie. Sie nahm sie auf sich. Während sie die zärtlich Liebende vorzutäuschen hatte, war sie Samariterin. Wenn alle Kunst ihrer Liebkosungen erfolglos geblieben war, tröstete sie ihn. Sein verstörtes Erstaunen zerschnitt ihr das Herz. Sein jagender Puls erfüllte sie mit banger Sorge. Sie schlang die Arme um ihn und flüsterte ihm zu: »Laß doch, sei doch ruhig, hab Geduld, dein Körper ist weiser als du...« Sie hatte einen Knaben im Arm, einen unglücklichen Sohn, ein törichtes, beschämtes, schluchzendes Kind.

Tiefer konnte man nicht sinken. Es war ihm nichts mehr verblieben von seinem inneren Besitz, von seiner Person und Würde, von seinem Wissen und Wirken, von der Schätzung der Welt. Leer. Fertig. Ausgeplündert. Eines Abends nahm er im Laboratorium im Stadthaus eine Tube mit schnell wirkendem Gift aus einem Behälter und steckte sie in die Westentasche. Als er dann nach Lindow zurückkam, fand er eine Depesche vom holländischen Kolonialministerium vor. Sie enthielt die Anfrage, ob es ihm möglich sei, sechs Monate nach Java zu gehen, um eine endemische Gehirnkrankheit zu studieren, die unter den Eingeborenen wütete.

Ein Fingerzeig ? Weisung der höheren Mächte ? Er zuckte die Achseln. Eine halbe Stunde später trat er zum offenen Kaminfeuer, warf die Tube hinein und sah trüben Blickes zu, wie sie in der Flamme mit lautem Knall zerplatzte.


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