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Nach wie vor trieb Overbury einen Totenkult mit Oriana's Grab. Tag für Tag ging er zu ihr, auf den Friedhof der St. Paul's Kathedrale.

Längst sprach er nicht mehr mit ihr, wie er es die erste Zeit nach ihrem Tode getan. Geantwortet hatte sie ihm nie, – welchen Sinn noch hatte es, sie zu rufen! Krankhaft waren seine Bemühungen gewesen, mit der Toten in Verkehr zu treten. Sie selbst, die Kluge und Kristallklare, hätte gelächelt, – falls sie aus dem Sarg empor oder aus einem Jenseits herab auf ihn hätte sehn können, – gelächelt hätte sie über ihn und sein widerspruchsvolles, von Schmerz getrübtes Denken. Doch sie hätte ihn nimmer sehn noch hören können; – Tote haben nicht Augen und nicht Ohren.

Er machte keinen Versuch mehr, sie zu wecken. Und dennoch besuchte er sie und saß bei ihr. Und brachte ihr Blumen. Nicht um das erdumhüllte morsche Fleisch zu erfreuen, um vielmehr die lebendige Gestalt zu erfreuen, die in seinem Blute und Hirne fortlebte, solange sein Blut noch pochte und sein Hirn noch zu denken – zu gedenken – fähig war.

Heimisch war er auf dem Kirchhof geworden. Jeden Lebensbaum, jede alte Zypresse, jedes Grab und seine Inschrift kannte er. Manche hochberühmte Namen waren auf den Steinen zu lesen.

Es gab andere Friedhöfe, doch keinen, der so bequem – im Mittelpunkt der Stadt – gelegen war, wie der St. Paul's Friedhof. Er war beliebt, eine Attraktion; kaum daß ein guter Theaterplatz so begehrt war wie ein Platz unter seinen Zypressen. Nicht nur tote Earls, auch tote Bürger drängten sich heran, – um ihrem Sarg und ihren Hinterbliebenen weite Wege zu ersparen.

Zu viele drängten sich heran, zu eng war der Acker Gottes. Darum wurde für die Mehrzahl seiner Bewohner aus der ewigen Ruhe eine kurze Ruhe. Nach Ablauf einer Frist von wenigen Jahren mußte der Tote unweigerlich einem Nachfolger Platz machen. Mit den Gebeinen berühmter Toter – wie z. B. mit denen Kit Marlowe's oder des Earl of Rutland – wurde glimpflicher verfahren. Ruhmlose Skelette jedoch endeten auf dem Kehrichthaufen.

Anfang August, zwei Monate nach den Meliades-Festen, sah eines Abends Overbury, wie der Totengräber eine der Grabstätten ausschaufelte, um für einen neuen Sarg Raum zu schaffen. Overbury trat heran und schaute zu. Zwei kleine Schutthügel entstanden rechts und links von der Grube. Die Schaufel warf Totenknochen auf die beiden Erdhaufen. Ein Menschenschädel flog aus der Grube empor und kollerte vor die Füße Overbury's.

Der hob den Totenkopf auf. Mag sein, daß er – wie Hamlet – tiefsinnige Betrachtungen anstellen wollte. Es kam nicht dazu. In eine andere Richtung wurde durch den Anblick des Schädels sein Geist gedrängt. Ein Rätsel starrte ihn an und erheischte eine Lösung. Das os occipitale, das Hinterhauptsbein, war von einem verrosteten langen Nagel durchbohrt. Doch nur der Nagelkopf war von außen sichtbar.

Blitzschnell überlegte Overbury: auf natürliche Weise konnte der Nagel an diese Stelle des Hinterhauptes nicht gelangt sein, auch durch einen unglücklichen Sturz nicht; nur Menschenhände konnten ihn dort eingehämmert haben; und zwar mußte das an einem noch Lebenden geschehen sein ...

Vorsichtig zog Overbury den Nagel aus dem Schädel und steckte ihn in die Tasche seines Wamses. Der schaufelnde Mann in der Grube hatte nichts gesehn. Overbury redete ihn an.

»Guten Abend, Master Nicholls.«

»Ihnen wünsche ich einen geruhsameren, Sir Thomas ... Doch Sie haben noch vierzig Jahre Zeit, bis Ihnen die Vesperglocke läutet.«

»Ich verstehe ... Und welche Zeit haben unsere Freunde dort unten? Mitternacht?«

»Nein, Sir Thomas, – Allnacht ohne Glockengeläut ... Das heißt, nur wenn der Sarg aus Eichenholz war.«

»Die Griechen nahmen Marmor, der nicht fault, und nannten das Ding ›Sarkophag‹, – das bedeutet: ›Fleischfresser‹.«

»Ich schreibe mir's hinter die Ohren, Sir Thomas! ... Dann sind aber alle Menschen Särge! ... Wir essen doch Fleisch! ...«

»Mir scheint, der Sarg dieses Grabes hat sich selbst aufgefressen.«

»Und gründlich verdaut hat er sich selbst: nicht einmal Staub blieb übrig.«

»Wie kommt das? Lag der Tote so lange dort unten?«

»Keine zehn Jahre. Ich selbst begrub ihn. Doch damals hatte die Pest alles Sargholz verbraucht; und selbst reiche Leute konnten sechs morsche Tannenholzbretter kaum bezahlen.«

»War der Tote ein reicher Mann?«

»Die Toten sind arme Kerle, Sir Thomas! ... Ich weiß es, – ich bin hier der Armenaufseher.«

»Doch bevor er starb? ...«

»War er ein Mönch im Nonnenkloster.«

»Gibt es das in England? Wie hieß der Mann?«

»Master Turner, der Apotheker. Er hatte es nicht weit von der Paternoster Row bis hierher. An seiner Stelle hätte ich den Weg bedächtiger zurückgelegt, denn er schien noch ganz rüstig ... Ob er reich war? Seine Witwe sieht nicht wie eine Hungerleiderin aus ... Kennen Sie sie?«

»Nein, Master Nicholls. Was ist das für eine Frau?«

»Oh! eine anständige Frau, ich sage Ihnen, eine sehr anständige Frau! ...«

Der Totengräber kniff ein Auge zu und blickte mit dem andern Overbury vielsagend an.

»Sie haben mich neugierig gemacht, Master Nicholls. Spricht man so schlecht von ihr?«

»Ich nicht, Sir Thomas! Beileibe, nein! Von Lebenden soll man nur Gutes reden; – die üble Nachrede kommt ja hernach. Alle hernach, lautet die Grabschrift ... Lose Mäuler allerdings behaupten, mit einem alten Earl habe sie was gehabt, bevor sie Mistris Turner wurde; und jetzt soll sie mit einem gewissen Helways zusammenleben ... Fromm ausschauen tut sie, wie ein vom Himmel gestiegener Engel. Aber das ist es: würde ein Engel Halskrausen nähen – für lockere Nönnchen und Damen der Hölle?«

»Warum nicht, Master Nicholls? Ein vom Himmel gestiegener Engel müßte sich doch irgendwie sein Brot verdienen.«

»Irgendwie? ... Damit entschuldigen sich alle Bordellwirte, Sir Thomas! ...«


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