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12

Erst nach Mitternacht verließ Sir Thomas Overbury Whitehall, um sich zu seiner unweit der Old London Bridge befindlichen Wohnung rudern zu lassen. Das enge damalige London war eine Wasserstadt wie Venedig – Tausende von grellfarbig befrachteten Booten und Lastkähnen wimmelten tagsüber auf der Themse; und durchbrochen sich spiegelnde Laternenlichter schaukelten nachts, wie ein Gewühl von Leuchtkäfern, auf den kohlschwarzen Flußwellen. An die vierzigtausend Menschen lebten von der Gunst der Wasserstraße als Bootsverleiher, Bootsbauer, Bootsknechte, Bootswächter.

Müde war Overbury. Seines feinen Geschmackes und Urteils wegen war er unablässig in Anspruch genommen worden den ganzen Nachmittag hindurch, als die vom Bildhauer Nicholas Stone entworfenen allegorischen Kostüme und Haartrachten zum erstenmal in Erscheinung traten, und erst recht abends im großen Saal der Banqueting Hall, wo der geniale Architekt Inigo Jones die Kulissen für das Maskenspiel aufstellen ließ nebst einer gewaltigen Maschinerie, durch die eine drehbare hohle, acht Damen fassende Erdkugel bewegt werden konnte. Die Hammerschläge der Arbeiter hallten noch, als Overbury den Palast verließ.

Er kam zur Landungsstelle und fand dort weder sein Boot noch seinen Diener Jasper. Das war an sich nichts Verwunderliches. Auch sonst, wenn es spät wurde, pflegte Jasper sich die Zeit zu vertreiben, indem er die Themse hinauf oder hinab ruderte. Doch blieb er stets in Hörweite und schoß heran, sobald seines Herren Pfiff erscholl.

Doch Overbury's mehrmaliges Pfeifen blieb diesmal ungehört. Mißmutig und gähnend setzte er sich auf die oberste Stufe der breiten, in die Themse hinabführenden Steintreppe. Seltsam verlassen und allein fühlte er sich. Die Vorderfront des spätgotischen Palastes, kaum hundert Schritt vom Fluß entfernt, war mit grauweißem Monddunst überschleiert, unwahrscheinlich ferngerückt. Geschlossen war das große Portal, die Lichter in den Fenstern der Hoffräuleins erloschen. Der schwere Schritt des Wache haltenden Hellebardiers verhallte und erstarb auf einer Terrasse an der rechten Schmalseite des Schlosses.

Da sah Overbury in der nachtschwarzen Themse ein blutjunges Mädchen schwimmen, und ihm schien, er habe niemals eine geübtere, niemals eine zauberhaftere Schwimmerin gesehen. Sie schwamm auf die Steintreppe zu; und als sie näher und näher kam, erhob er sich sacht und stellte sich hinter den Stamm eines alten Ahorns. Sie landete an der Brücke, – und jetzt erst gewahrte er, daß sie vom Nabel abwärts einen Fischschwanz hatte voll großer grünblau und milchig und rubinrot opalisierender Fischschuppen.

Flink und gelenk streifte sie den Schwanz ab als wär's ein Gewand. Und herrlich, wie Gott sie erschaffen hatte, stieg sie die Treppe hinauf, ging auf ein Rasenstück zu und tanzte dort längere Zeit träumerisch, sehnsüchtig und traurig, – wie eine, der zu tanzen nur selten vergönnt ist. Dann stellte sie sich weiß und schlank vor ein Blumenbeet. Einen großen Nachtfalter, – man nennt ihn den Totenkopf oder Totenvogel –, der eben an einer dunklen Rose sog, haschte sie, blickte ihm sinnend in die winzigen erschreckten Augen und küßte ihn. Und es war, als hätte ihr Kuß den Totenvogel ihr hörig gemacht, denn als sie ihn auf ihre linke Brust gesetzt hatte, blieb er berauscht sitzen und streichelte ihre silbrige Haut mit seinen bebenden Flügeln.

Overbury schlich jetzt die Treppe hinab und ergriff den Fischschwanz. Sie sah es, sie stieß einen leisen schrillen Schrei aus. Wie ein Marmorbildnis stand sie am Blumenbeet, regungslos, nur daß große, glitzrige Tränen ihr über die Wangen perlten. Der Schmetterling aber flog weg, flog ihm entgegen, umflatterte ihn, und schien hindern zu wollen, daß er ihr ein Leid antue.

Doch wollte denn Overbury ihr ein Leid antun? Er hatte ein junges, krankes Weib zu Hause. Mehr als sein Augapfel war sein Weib ihm lieb. Den Leib des Mädchens ersehnte er nicht, – wie berückend sie auch war.

Plötzlich warf sich das Mädchen auf die Knie vor ihm nieder:

»Laß mich eine Meermaid bleiben! Gib mir den Fischschwanz zurück!«

»Und wenn ich es tue – was gibst du mir dafür?«

»Diese schwarze Rose!«

»Das ist wenig ... Oder öffnet sie Schatzhöhlen?«

»Sie öffnet Menschenaugen.«

»Bedarf ich dessen?«

»Rieche an dieser Rose, so wirst du wissend werden und wirst es erblicken ...«

»Was? ...«

»Gottes Schreckenshand über Sodom und Gomorrha! ... Ach, wie blind, wie verblendet seid ihr Menschen, daß ihr die weiße Schreckenshand nicht seht!«

Overbury roch an der schwarzen Rose, die sie abgepflückt hatte und ihm hinhielt. Da sah er im Park, der linken Palastecke gegenüber, ein hohes, schwarzes Schafott, umstanden von Myriaden ergrausender Menschen. Ein König legte sein Haupt auf den Block, des roten Henkers Schwert sauste nieder, polternd rollte des Königs Kopf über die Planken, der Aufschrei der Myriaden erdröhnte wie das Gebrüll eines wunden Stiers ...

Overbury fühlte sich unsanft am Arm gepackt.

»Sie sind eingeschlafen, Sir Thomas! Um ein Haar wären Sie in die Themse geglitten, hätte ich Sie nicht aufgefangen!«

Sein Diener Jasper stand grinsend vor ihm. Overbury rieb sich ärgerlich und etwas beschämt die Augen. Vom Schafott und von der Meermaid war nichts zu sehn, Flußnebel weißten den Rasen, wo sie getanzt hatte. Weit hinten vor dem Schloßportal blinkte bläulich eine Hellebarde im Mondenschein.

Herr und Diener stiegen schweigend ins Boot.


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