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14

Mistris Jessop begann mit Kindheitserinnerungen aus Schottland. An einer Dorfkirche unweit von Glasgow und später an der St. John's Church in Perth war Jeremy Carter, ihr Vater, Küster gewesen. Höher hinaus, presbyterianischer Geistlicher werden, wollte ihr Bruder, der damals noch Ralph Carter hieß; – den Namen Murdac nämlich legte er sich später erst, auf Anraten seines Patrons, des Marquis of Huntley, bei, um schottischer Blutrache zu entgehen ... Es war beschlossen, daß Ralph als Student der Theologie die Universität von St. Andrews beziehen sollte; bevor es jedoch dazu kam, hatte er ein eigentümliches Erlebnis mit einer Hexe, – ein Erlebnis, das ihn aus seiner Bahn warf. Jedermann in Schottland weiß, daß die Hexen mit Vorliebe die Gestalt von Hasen oder Kaninchen annehmen. Bei einem nächtlichen Spaziergang überraschte Ralph Carter auf einer Feldwiese fünf Kaninchen, die im Kreise hockten, als hielten sie eine Versammlung ab, und sich so menschlich benahmen, daß er sofort erkannte, er habe Hexen vor sich. Mit einem Steinwurf tötete er eins der Kaninchen, die andern entflohen ... Nun war gerade damals in Perth eine junge Hexe gefoltert worden. Man fand sie tags darauf tot in ihrem Kerker. Sie mußte wohl in der gleichen Nacht und zur gleichen Stunde wie das Kaninchen gestorben sein, denn am Körper des erschlagenen Kaninchens, das Ralph heimgebracht hatte, entdeckten die Hexenrichter untrügliche Zeichen höllischer Herkunft ... Das allseitige Lob, das Ralph erntete, verwandelte sein bis dahin bescheidenes Wesen. Und vollends wurde ihm der Kopf verdreht, als Lord Adam of Gordon – ein Bruder des Marquis of Huntley – ihn aufsuchte und seinen Steinwurf mit dem Steinwurf Davids, der Goliath niederstreckte, verglich. Wenn er das vermocht – erklärte emphatisch der Lord – so sei er zu großen Heldentaten ausersehen und sei zu schade für die Kanzel; darum rate er ihm, der Theologie Valet zu sagen und sich dem Kriegshandwerk zu weihen.

Ralph ließ sich für Huntley's Regiment anwerben.

Während Huntley, zwei Jahre später, sein Heer nach Nordschottland führte, überfiel Lord Gordon einer persönlichen Fehde wegen, mit einem Teil der Truppen die Burg Towie, deren Burgherr, Lord Forbes, abwesend war. Von der Mauerkrone des Belfrieds herab redete Lady Forbes mit rührenden Worten Gordon an, bat ihn, sie und ihre Kinder und die Burg zu schonen. Ihm das Herz zu erweichen, gelang ihr nicht. Auf seine Drohung hin, er werde bald bei ihr im Bette liegen, verließ sie den Turm und leitete mutig mit ihren wenigen Getreuen die Verteidigung des Schlosses. Die Erstürmung wurde mehrmals abgeschlagen. Aber Gordon, wütend über manchen Verlust, befahl, Feuer an die Burg zu legen. Schon war ein Teil des Gebäudes eingeäschert, da sahn die Belagerer, daß sich ein Fenster öffnete und daß ein angeseilter, in ein Laken gehüllter Gegenstand an der Mauer herabgelassen wurde. »Fangt das Laken mit Speeren auf!« schrie Adam Gordon. Und sogleich streckten Ralph Carter und einige seiner Kameraden, die mit ihm zufällig unterhalb des Fensters standen, ihre Speere aufwärts. Das Laken fiel schwer und weich in die Speerspitzen hinein und färbte sich dunkel. Ins Gras wurde das Laken hinabgesenkt; und als man es auseinanderwickelte, lag ein zwölfjähriges Kind darin, das Töchterchen der Lady Forbes. Tot, von sieben Speeren durchbohrt. Ein ermordeter Engel. Aus dem flachsgelben Haar rieselte es karminrot.

»Wenn ich dich doch wieder lebendig machen könnte!« sagte Ralph zur toten kleinen Lady. Er, der im Kriegsdienst das Morden erlernt hatte, entsetzte sich zum erstenmal über sich selbst.

In einer der folgenden Nächte kam das tote Mädchen zu ihm. Er wußte, daß es kein Traum war. Das Mädchen suchte Schutz bei ihm vor einem Wilden Mann, der niemand anderes war als er selbst. Er kämpfte mit ihrem Verfolger, er kämpfte mit sich selbst und konnte doch nicht hindern, daß sie ermordet wurde. Und von neuem mußte er jammern: »Könnte ich dich doch ins Leben zurückrufen, Kind! ...«

Aber als die Vision von Zeit zu Zeit sich wieder einstellte, empörte er sich gegen seine Zerknirschung. Nicht mit rechten Dingen ging es zu, daß ein furchtloser Soldat schwächliche Reue und Herzensangst empfand. Da mußte die Hölle im Spiel sein. Und er entsann sich, daß er eine Hexe gekränkt hatte. Ja, das war es! Das weiße Kaninchen rächte sich an ihm, indem es in der Gestalt der toten kleinen Lady nachts zu ihm kam ... Seine Qual rührte vom Kaninchen her und nicht von der eigenen Schuld!

Als er diese Erklärung gefunden hatte, fühlte er sich wie erlöst. Und tatsächlich blieb das Mädchen weg und besuchte ihn viele Jahre nicht mehr.

Doch seines Bleibens war nicht mehr in Schottland. Ein Minstrel hatte eine Ballade auf die verbrannte Lady Forbes und ihr durchstochenes Töchterchen gedichtet, allenthalben wurde das Lied gesungen und die Schandtat verflucht. Offensichtlich zogen die Freunde Ralph's sich von ihm zurück. Das junge Weib Ralph's verließ mit ihrem Söhnchen heimlich seine Wohnung in Dundee, um zu ihren Eltern nach Inverness zurückzukehren; doch unterwegs wurde sie als die Gattin des ruchlosen Captain Carter erkannt und fiel der Volkswut zum Opfer. Nicht nur Lord Adam of Gordon, auch fünf von denen, die das Kind mit Lanzen aufgefangen hatten, büßten es mit ihrem Leben. Der Clan Forbes hielt in einem Tal eine nächtliche Versammlung ab, ein Totenschädel wurde umhergereicht, und alle Männer und Frauen des Clans schworen, die Hand auf den Totenkopf legend, den Eid der Rache. Sobald dies dem Marquis of Huntley hinterbracht worden war, ermöglichte er seinem Schützling, nach Northumberland zu entkommen. Carter trat ins englische Heer ein und nannte sich seither Murdac.

Als König James die Krone Elisabeths erbte, nahm er den Marquis of Huntley mit nach England. Er überhäufte ihn mit Gunstbezeigungen – vermutlich, weil der Marquis ihm als Mitwisser und Mitschuldiger an der Ermordung des schönen Earl of Moray (des unglücklichen Freundes der Königin) unheimlich war. Zum Lord-Schatzmeister wurde der Marquis ernannt. In den vereinigten Königreichen einer der Mächtigsten geworden, entsann sich Huntley Murdac's und verschaffte ihm die Stelle eines Bailiffs in Cymry Castle.

Eine Weile führte Murdac mit seiner Frau – er hatte inzwischen zum zweitenmal geheiratet – und seinem Söhnchen ein friedliches Leben als Chatelier, das nur zuweilen unterbrochen wurde, wenn sein Amt ihn zwang, den Schmugglern von Rye Harbour aufzulauern.

In einer Sturmnacht brachte Huntley die damals zehnjährige Arbella Stuart nach Cymry Castle und überantwortete sie Murdac. Auf dessen Dankbarkeit und Ergebenheit konnte er ja bauen. Vom König war, als der Marquis sich erboten hatte, Arbella's Spuren zu verwischen, zur Bedingung gestellt worden, dem Kinde dürfe nichts Böses geschehen. Das und die Wahrung des Geheimnisses schärfte Huntley dem Bailiff ein, bevor er heimlich, wie er gekommen war, Cymry Castle verließ.

Da das Gehalt, das Murdac als Bailiff bezog, vom Schatzamt seit diesem nächtlichen Besuch verdoppelt worden war, wurde anfangs Arbella menschlich behandelt. Ihre fürstliche Erziehung – man hatte ihr bis dahin lateinischen, spanischen, französischen und italienischen Unterricht erteilt – mußte freilich vernachlässigt werden. (Lehrer gab es nicht in der Einöde, und erst allmählich schloß sie Freundschaft mit den staubigen Verstorbenen der Bibliothek ...) Gar bald mußte sie ihr Prinzessinnenkleid ablegen, um ein alltagsgraues anzuziehen. Nur ließ sich die unendliche Kindestraurigkeit nicht ablegen wie ein Kleid – trotz aller Freundlichkeit ihrer Kerkerwächter.

Mistris Murdac, eine exaltierte unbeherrschte Waliserin, meinte es gewiß gut auf ihre Weise. Eine Kerkermeisterin zu sein, war sie sich nicht bewußt. Sie bemitleidete, bemutterte, bewunderte; sie geriet in Verzückung über des Kindes Schönheit. Ihr gleichaltriges Söhnchen freilich stand ihrem Herzen näher. Und um sich das nicht anmerken zu lassen, verhätschelte sie Arbella. Bis sie – doch das geschah erst nach drei Jahren – die Entdeckung machte, daß ihr Mann von einer Leidenschaft für das verschlossene, unnahbare, hochmütige Kind verzehrt wurde. Früher als er selbst entdeckte sie dies. Sie schwieg aus Furcht, ein Wort könne das Unheil verschlimmern. Der unterdrückte Kummer ätzte ihr die Seele, machte sie launisch, unberechenbar. Wenn sie eben noch vor Arbella wie vor einer Heiligen gekniet, ihr die rötlich goldenen Haare geküßt hatte, konnte sie jäh ergrimmen und zu Mißhandlungen sich hinreißen lassen. So daß Murdac Arbella zu Hilfe kommen mußte. Und eines Tages, als er wieder das Kind ihren Händen entriß, schrie sie ihm ins Gesicht:

»Du bist verliebt in das Kind!«

»Sie ist eine kleine Königin«, erwiderte er achselzuckend und versuchte gar nicht, es abzuleugnen.

Bald darauf erkrankte Arbella an Scharlach und fast gleichzeitig Murdac's Söhnchen. Murdac wich nicht von Arbella's Bett und tat mehr für ihre als für des Sohnes Pflege. Da starb sein Sohn. Und weil Arbella den Knaben mit Scharlach angesteckt hatte, erschrak Murdac über seine Leidenschaft und redete sich ein, er verabscheue jetzt Arbella. Mistris Murdac durchschaute, daß sein Abscheu nur ein Panzer gegen seine Verliebtheit war. Nach wie vor machte sie ihm den Vorwurf, er blicke Arbella mit glühenden Augen an. Wenn er dann entgegnete: »Ja, mit haßglühenden Augen, denn sie hat meinen Sohn getötet!« so lachte Mistris Murdac.

Einmal im Winter ging Arbella auf den das Wasserschloß umgebenden zugefrorenen Teich, um zu schlittern. Sie brach im Eise ein. Murdac sah es aus einem Fenster des ersten Stockwerks. Er hatte ihr, wie er es gewöhnlich tat, heimlich nachgeblickt. Zu groß war die Entfernung; – wäre er hinabgeeilt, sie aus dem Eis zu ziehn, er wäre zu spät gekommen. Wie ein Wahnsinniger schrie er. Sein Weib, das unten im Schloßhof stand, lief, als sie ihn schreien hörte, zum Ufer. Er rief ihr zu, was geschehen, und befahl ihr, dem Kinde nachzuspringen. Einen Augenblick zauderte und schauderte sie und gehorchte ihm dann doch. Bis zu den Hüften versank sie im Eiswasser, bevor es ihr gelang, Arbella herauszuziehen. Fiebernd legten sich beide zu Bett; – Arbella genas, Mistris Murdac starb.

Zu ihrer Beerdigung kam Murdac's Schwester, Mistris Jessop, nach Cymry Castle. Einander fremd geworden waren die Geschwister während zwanzigjähriger Trennung. Jetzt hatte der Tod beide verwitwet, beide vereinsamt und zusammengeführt. Nach der Trauerfeier bat Murdac seine Schwester, in Cymry Castle zu bleiben, um Arbella vor ihm zu beschützen. Jawohl, vor ihm, ihrem Beschützer! ... Als er mit bebenden, blutlosen Lippen das aussprach, begriff Mistris Jessop, daß sein Geist sich zu umnachten begann. Und auch er wußte es und fühlte, daß er dem Irrsinn nicht entrinnen konnte. Die kleine Lady Forbes besuchte ihn wieder nachts, das weiße Kaninchen rächte sich wieder an ihm. Zuweilen auch nahm die Vision die Züge Arbella's an. Den Sohn und die Gattin hatte Arbella ihm geraubt, und nun raubte sie ihm gar den Verstand. Ihm bangte, er könne sich an ihr vergreifen – und darum gab er sie in die Obhut seiner Schwester.

Erschüttert von seiner Beichte, blieb Mistris Jessop in Cymry Castle und unterzog sich der schier unmöglichen Aufgabe, ein schutzloses Kind zu schützen und die Dämonen des Schlosses zu beschwichtigen.


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