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46

Am Abend dieses Tages begleitete Overbury den Prinzen Hal aus Whitehall zu Fuß nach London. Es war ein Umweg, den sie mit Absicht wählten. Denn das Ziel ihrer Mondscheinwanderung, der Palast Northampton's (wohin Hal der französischen Gäste wegen hatte übersiedeln müssen), wäre mit einem Ruderboot schneller zu erreichen gewesen. Aber es lag Hal daran, den Weg zu verlängern. Übervoll war sein Herz, und Overbury war sein einziger Freund.

Auch Overbury liebte den Prinzen, wenngleich auf andere Weise. So etwa mochte ein griechischer Bildhauer den Apollo geliebt haben, seiner Hände Werk, das aus rohem Marmorblock sich herausschälend ihm selbst zur Gottheit – zum Apollo – wurde ... Des Abstandes immer sich bewußt, nahm er mit tiefer Dankbarkeit das Geschenk der Freundschaft entgegen, – ein bescheidener Horatio neben einem knabenhaften Hamlet. Der große Altersunterschied wurde ausgeglichen durch des Prinzen erstaunliche Frühreife. Der Rangunterschied hätte für Vertraulichkeit eine Schranke sein müssen, wäre der Untergebene nicht zuerst Lehrer gewesen, bevor er sich Freund nennen durfte. Einst nämlich, als Hal's Erzieher einen leichten Schlaganfall erlitt, war Overbury in die Bresche gesprungen, seiner Sprachkenntnisse und humanistischen Bildung wegen von James zum zeitweiligen Vertreter Dr. Newton's auserwählt. Oft seitdem hatte er im stillen gewünscht, ihm wäre die Macht verliehen, das Wachstum zu hemmen, das ihm beängstigend, ja unheimlich vorkam ... Das Freundschaftsband war eine nicht leichte Kette, ihm war Verpflichtung und Verantwortung auferlegt, – stand doch die Zukunft des Landes auf den zwei Augen dieses Knaben.

Über mondbeglänzte Wiesen den Vorstadtgassen sich nähernd, redeten sie von mancherlei; nur das eine, das belastend und beseligend in seinem Hirne wirbelte, – brachte Prinz Hal nicht über die Lippen. Ein Alp, doch ein herrlicher Alp, schreckte, würgte und entzückte ihn. Wohl lockte es ihn, dem Ungeheuer – dem Ungeheuern – mit dunklen Worten nahezukommen, gleichsam es zu kitzeln und zu reizen wie einen gefährlichen Drachen; – es aber zu verscheuchen, beim Namen es nennend, und so vom Druck sich zu befreien, hatte er nicht Lust oder schob es hinaus.

Drum sprach er zunächst vom Tower. Was dort vor sich gegangen war, wußte sein Freund noch nicht, der am Schmerzensbett Oriana's den Vormittag hatte verbringen müssen. Eine Reihe düsterer tragikomischer Bilder beschrieb Hal, Trauerspiel und Satyrspiel zugleich, eine kaleidoskopisch wechselnde Szenenfolge, in deren Mittelpunkt immer ein Hanswurst stand –: der König, sein Vater! ... Wenn sich Hal auch nicht so kraß ausdrückte, seine abmildernden Umschreibungen waren Schleier, die nichts verhüllten. Es ließ sich nicht totschweigen, daß er an den Narreteien seines Vaters wie an Dornwunden litt, daß er sich seines Vaters schämte.

Und Overbury wunderte sich. Rauher, männlicher klang des Prinzen Stimme. Waren wirklich bloß vier Tage vergangen seit jener Probe von »Hymens Maskenspiel« auf dem Rasenplatz, wo der herrliche Knabe herangaloppiert kam, Lady Suffolk's Zöpfchen vom Griff des Hofnarren zu befreien? Was hatte er inzwischen erlebt, daß er so jählings zum Mann gereift war? ...

Fast mehr Klage als Anklage verbarg sich hinter Hal's Bitterkeit. Welch ein klägliches Fiasko, als die »wirklichen« Löwen in ihre offenen Käfige zurückkrochen, zu faul und wohlgenährt, sich dem König zuliebe zu zerfleischen! Wie perfide lachten dabei die Franzosen, und man wußte nicht – oder wußte man es doch? – über wen sie lachten! Welch eine Roheit die Szene bei Geoffrey Ruthven! Welch eine Blamage der Besuch bei Percy, der mit seiner Tochter Lucy Schach spielte, nicht grüßte, keinen der hohen Gäste eines Blickes würdigte; der aber, sobald der König den Mund auftat, »matt« dazwischenrief oder auch: »König! Wahrlich ein König! Jeder Zoll ein König!« und schließlich: »Bauer! Bauer! Bauer!« ... Und gar die Schmach in Raleigh's Gemächern! Eine erdrückende Persönlichkeit dieser Raleigh! Zum Zwerg wurde der König vor diesem Riesen und merkte den Hohn gar nicht, mit welchem jener ihm von einem Goldfelsen in Südamerika sprach, zu welchem er – er ganz allein – den Weg kenne. Der König glaubte das!

»Auch Raleigh wird es geglaubt haben, mein Lord, – wenigstens während er davon sprach. Er ist solch ein Phantast.«

»Ich beneide dich, Thomas, daß du mit ihm befreundet bist. Du mußt mich zu ihm führen, ich will ihn kennenlernen ... Bei Gott, das bringt nur mein Vater fertig, solch einen Kondor im Vogelbauer zu halten! ... Sobald ich König werde, lasse ich ihn frei!«

»Das ist noch lange hin, mein gnädiger Lord!«

Hal schwieg eine Weile. Plötzlich blieb er stehn. Sie befanden sich auf einem Wiesenweg, die Lichter der Stadt flimmerten schon nahe. Er blickte sich um, – der Mond und einige Fledermäuse waren Ohrenzeugen, sonst niemand.

»Sage mir ehrlich, Thomas, – ist es schlecht von mir, wenn ich zuweilen wünsche, es geschähe bald?«

»Was geschähe, mein Lord?«

»Daß mein Vater stirbt ...«

»Schlimme Versucher sind solche Gedanken, mein Lord. Man muß sie niederringen.«

»Warum muß man? Wem schadet ein bloßer Wunsch?«

»Dem Wünschenden, mein Lord.«

»Macht es ihn zum Mörder? Tötet man denn durch Gedanken?«

»Nein. Doch sie sind wie eine geworfene Lanze, die sich zuweilen gegen den Werfenden kehrt.«

»Dann müßte ich also früher sterben als er?«

»So meinte ich es nicht, mein Lord! Gott verhüte es, kein größeres Unglück könnte England treffen!«

»Aber es könnte doch geschehn ... Noch nie bisher hatte ich es mir überlegt ... Doch gewiß, du hast recht, jeder Mensch kann sterben ... Und was dann? ... was dann? ... Du kennst meine eiserne Kassette, Thomas?«

»Ja, mein Lord.«

»Dies hier ist der Schlüssel.«

»Ich weiß, mein Lord.«

»Wenn ich sterben sollte, so mußt du sofort alles verbrennen, was in der Kassette ist! Hörst du?«

»Was ist darin, mein Lord?«

»Bisher war nichts Besonderes darin.«

»Bisher, mein Lord? Und jetzt?«

»Sage mir, Thomas, – kann ein Thronerbe ein Hochverräter sein?«

»Oh, mein gnädiger Lord, – mich erschreckt die Frage!«

»Merkst du nicht, daß ich mit Feuer spiele? Also spiele auch du und antworte! Kann ein Königssohn seinen Kopf verscherzen?«

»König Philipp II. ließ seinen Sohn Don Carlos zum Tode verurteilen.«

»Wenn mein Vater wüßte, was heute geschah, so säße ich jetzt als Hochverräter im Tower.«

»Um Gott, – was geschah, mein Lord?«

»Nichts ... D'Epinoy zeigte mir Waffen ... Gefährliche Waffen.«

»Die wem dienen sollen, mein Lord?«

Hal gab keine Antwort. Selbst dem treuesten der Freunde konnte er das Ungeheure nicht anvertrauen. Der König Frankreichs hatte ihm heute durch D'Epinoy eine Botschaft und einen eigenhändigen Brief gesandt; – sein gigantisches Ziel war »La Republique Chrétienne«, ein Staatenbund, ein Reich, dessen Provinzen Frankreich, Schweden, die protestantischen Länder Deutschlands, Dänemark, Holland, Schottland und England werden sollten; ein geeintes Europa von so gewaltigem Ausmaß, daß Rom und Habsburg mit oder ohne Schwertstreich sich würden fügen müssen, sich später vielleicht ins neue Weltreich würden einfügen lassen ... Doch nicht an den Maitre Jacques hatte sich der französische König gewandt, – nein, an ihn, den jungen Prinzen Hal, um ihn als Bundesgenossen zu gewinnen. Er aber hatte sofort zugestimmt und hatte D'Epinoy ein Antwortschreiben übergeben, worin er sich verpflichtete, Schottland und England der Republik zuzuführen – als zwei Schwestern einer gemeinsam ein Schloß bewohnenden einigen Familie ...

»Wenn meine Frage indiskret war, mein Lord, so bitte ich um Verzeihung.«

»Du bist verletzt, weil ich schwieg, Thomas ... Heute kann ich nicht sprechen, vielleicht ein andermal ... Doch die Frage will ich dir beantworten: dienen wird mein Schwert der Republik Europa!«

»Wo liegt dieses Land, mein Lord? Auf dem Monde?«

»O nein! Nördlich der Alpen!«

Klug war Overbury. Zu den wenigen Andeutungen ergänzte seine Phantasie das Fehlende. Was er vermutete, kam der Wahrheit ziemlich nahe. Mehr noch als die Gefahr für Hal, beunruhigte ihn die Ahnung, daß Hal eine andere Straße zog als er, der zu katholischer Mystik neigende Heide.

»Was es auch sei, mein Lord, ich flehe Sie an, bedenken Sie das eine: Nicht ›Hie Rom!‹ und ›Hie Wittenberg!‹ heißt die Losung, sondern ›Hie Shakespeare!‹ und ›Hie Caliban!‹ Schon lauert ja Caliban auf den Weltkampf, der beide Parteien aufreiben wird. Ist das geschehen, so wird Caliban der Aasgeier, der Überlebende, der Endsieger sein. Der Caliban unserer Zeit aber ist der Puritaner!«


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