Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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Übrigens ist bekannt genug, oder könnt' es wenigstens seyn, daß Aristipp nie eine eigene filosofische Sekte zu stiften begehrt, und so wenig als Xenofon oder Sokrates selbst, seine Lebensweisheit jemahls schulmäßig gelehrt hat. Denn daß er vor vielen Jahren, während seines letzten Aufenthalts in Athen, die Filosofie des Sokrates einigen Liebhabern, die sich schlechterdings nicht abweisen lassen wollten, zu großem Ärgerniß der übrigen Sokratiker, um baare Bezahlung, unverändert und ohne etwas von den seinigen hinzuzuthun, vorgetragen, gehört nicht hierher. Er that damit nichts anders, als was ein Mahler thut, wenn er eine mit allem Fleiß gearbeitete Kopey eines berühmten Gemähldes eines ältern Meisters, nicht für das Urbild selbst, sondern für das was es ist, für ein Nachbild verhandelt. Das, was man seine eigene Filosofie nennen kann, stellt er weniger in mündlichen und schriftlichen Unterweisungen als in seinem Leben dar; ob er gleich kein Bedenken trägt, seine Art über die menschlichen Dinge zu denken. und die Gründe, die sein Urtheil, es sey nun zum Entscheiden oder zum Zweifeln, bestimmen, bey Gelegenheit an den Tag zu geben, zumahl in Gesellschaften, die zu einer freyen und muntern Unterhaltung geeignet sind. Unter vertrautern und kampflustigen Freunden läßt er sich auch wohl in dialektische Gefechte ein, wo es oft zwischen Scherz und Ernst so hitzig zugeht, als ob um einen Olympischen Siegeskranz gerungen würde; aber auch diese Spiegelgefechte endigen sich doch immer, wie alle Kämpfe dieser Art billig endigen sollten: nehmlich daß die Ermüdung der Kämpfer dem Spiel ein Ende macht, und jeder mit heiler Haut, d. i. mit seiner eigenen unverletzten Meinung davon geht, zufrieden sich wie ein Meister der Kunst gewehrt zu haben, und die Zuhörer ungewiß zu lassen, welcher von beiden der Sieger oder der Besiegte sey. Ich will damit keineswegs sagen, daß Aristipp von seinem System, in wiefern es ihm selbst zum Kanon seiner Vorstellungsart und seines praktischen Lebens dient, nicht wenigstens eben so gut überzeugt sey als Plato von dem seinigen; nur glaubt er nicht, daß eine ihm selbst angemessene Denkweise und Lebensordnung sich darum auch für alle andern schicken, oder was Ihm als wahr erscheint, auch von allen andern für wahr erkannt werden müsse.

Gestehe, Diogenes, daß man mit einem so anspruchlosem Geisteskarakter eher alles andere als ein Sektenstifter seyn wird, und daß es sogar widersinnisch ist, denjenigen dazu machen zu wollen, der eben darum, weil er seine Art zu denken und zu leben unter seine persönlichen und eigenthümlichen Besitzthümer rechnet, andern nur so viel davon mittheilt, als sie selbst urtheilen, daß ihnen ihrer innern Verfassung und ihren äußerlichen Umständen nach zuträglich seyn könne.

Übrigens sehe ich nicht, warum er nicht eben so gut als Andere berechtigt wäre, seine Grundbegriffe für allgemein wahr und brauchbar zu geben. Was er unter jener, seinen Tadlern so unbillig verhaßten Hedone (welche, nach ihm, das Wesen der menschlichen Glückseligkeit ausmacht) versteht, ist nicht Genuß wollüstiger Augenblicke, sondern dauernder Zustand eines angenehmen Selbstgefühls, worin Zufriedenheit und Wohlgefallen am Gegenwärtigen mit angenehmer Erinnerung des Vergangenen und heiterer Aussicht in die Zukunft ein so harmonisches Ganzes ausmacht, als das gemeine Loos der Sterblichen, das Schicksal, über welches wir gar nichts – und der Zufall, über den wir nur wenig vermögen, nur immer gestatten will. Ist etwa die Eudämonie der andern Sokratiker im Grunde etwas anders als ein solcher Zustand? Warum hält man sich, anstatt sich um Worte und Formeln zu entzweyen, nicht lieber an das, worin Alle übereinkommen? Wer wünscht nicht so glücklich zu seyn als nur immer möglich ist? Und, wie verschieden auch die Quellen sind, woraus die Menschen ihr Vergnügen schöpfen, ist das Vergnügen an sich selbst nicht bey allen eben dasselbe? Warum soll es Aristippen nicht eben so wohl als andern erlaubt seyn, Worte, die der gemeine Gebrauch unvermerkt abgewürdigt hat, wieder zu Ehren zu ziehen und z.B. die schuldlose Hedone, wiewohl sie gewöhnlich nur von den angenehmen Gefühlen der Sinne gebraucht wird, zu Bezeichnung eines Begriffs, der alle Arten zusammen faßt, zu erheben? Daß durch einen weisen Genuß alle unsrer Natur gemäße Vergnügungen, sinnliche und geistige, sich nicht nur im Begriff, sondern im Leben selbst sehr schön und harmonisch vereinigen lassen, hat Aristipp noch mehr an seinem Beyspiel als durch seine Lehre dargethan. Seine Filosofie ist eine Kunst des Lebens unter allen Umständen froh zu werden, und bloß zu diesem Ende, sich von Schicksal und Zufall, und überhaupt von aller fremden Einwirkung so unabhängig zu machen als möglich. Nicht wer Alles entbehren, sondern wer Alles genießen könnte, wär' ein Gott; und nur, weil die Götter das Letztere sich selbst vorbehalten, den armen Sterblichen hingegen über alle die Übel, welche sie sich selbst zuziehen, noch so viel Noth und Elend von außen aufgeladen haben als sie nur immer tragen können, nur aus diesem Grund ist es nothwendig, daß der Mensch entbehren lerne was er entweder gar nicht erreichen kann, oder nur durch Aufopferung eines größern Gutes sich verschaffen könnte.

Doch ich sehe, daß ich mich unvermerkt in Erörterungen einlasse, die zu meiner Absicht sehr entbehrlich sind. Denn es versteht sich, daß ich dich nicht zur Filosofie Aristipps bekehren, sondern nur geneigt machen möchte, dich des Karakters eines Mannes, den ich als einen der edelsten und liebenswürdigsten Sterblichen kenne, bey Gelegenheit mit so viel Wärme, als deiner wohlbekannten Kaltblütigkeit zuzumuthen ist, gegen seine unbilligen Verächter anzunehmen. Ich befriedige dadurch bloß mein eigenes Herz; Aristipp weiß nichts von diesem Briefe, und scheint sich überhaupt um alles, was seine ehemahligen Mitschüler von ihm sagen und schreiben, wenig zu bekümmern. Indessen nährt er doch für die Athener noch immer eine Art von Vorliebe, die ihn über ihre gute oder böse Meinung von ihm nicht so ganz gleichgültig seyn läßt als er das Ansehen haben will. Zuweilen wenn die Rede von den Albernheiten, Unarten und Verkehrtheiten ist, wodurch sie ehemahls dem Witz ihres Aristofanes so reichen Stoff zu unerschöpflichen Spöttereyen und Neckereyen gegeben haben, sollte man zwar meinen, er denke nicht gut genug von ihnen, um sich viel aus ihrem Urtheil zu machen: aber im Grund entspringt sein bitterster Tadel bloß aus dem Unmuth eines Liebhabers, der sich wider seinen Willen gestehen muß, daß seine Geliebte mit Mängeln und Untugenden behaftet ist, die es ihm unmöglich machen sie hoch zu achten, und worin sie sich selbst so wohl gefällt, daß keine Besserung zu hoffen ist.

Ich höre, daß du seit dem Tode des alten Antisthenes nach Athen zurück gekehrt seyest, um, wie man sagt, von seiner Schule im Cynosarges Besitz zu nehmen, da du itzt als das Haupt der von ihm gestifteten Sekte betrachtet werdest. Ich kenne dich zu gut, Freund Diogenes, um nicht zu wissen, wie dieß zu verstehen ist. Du wirst so wenig als Sokrates und Aristipp in dem gewöhnlichen Sinn des Worts, an der Spitze einer Schule oder Sekte stehen wollen, und deine Filosofie läßt sich so wenig als die ihrige durch Unterweisung lernen. Aber die Athener bedürfen deines scherzenden und spottenden Sittenrichteramts mehr als jemahls; und wenn gleich wenig Hoffnung ist, daß du sie weiser und besser machen werdest; so kann es ihnen doch nicht schaden, einen freyen Mann, dessen sämmtliche Bedürfnisse auf einen Stecken in der Hand und eine Tasche voll Wolfsbohnen am Gürtel eingeschränkt sind, unter sich herum gehen zu sehen, der sie alle Augenblicke in den Spiegel der Wahrheit zu sehen nöthigt, und ihnen wenigstens das täuschende Vergnügen des Wohlgefallens an ihrer eignen – Häßlichkeit möglichst zu verkümmern sucht. Wenn deine Gegenwart endlich ihnen, oder ihre unheilbare Narrheit dir, gar zu lästig fiele, so wirst du die Arme deiner Freunde in Korinth immer wieder offen finden; und sollte dich zuletzt die ganze Hellas nicht mehr ertragen können, so laß dich irgend eine freundliche Nereide an die Küste Lybiens zu deinem Antipater geleiten, der die Tage, die er in seiner Jugend mit dir verlebte, und die traulichen Wallfahrten nach dem Eselsberg, und die Schwimmpartien nach dem Inselchen Psyttalia, immer unter seine angenehmsten Erinnerungen zählen wird.


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