Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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V.
An Ebendenselben.

Fortsetzung des vorigen.

Da ich mich, beynahe wider Willen, aber durch die Natur der Sache selbst, mit welcher ich mich zu befassen angefangen, unvermerkt in eine nähere Beleuchtung der einzelnen Theile, woraus die vor uns liegende reiche Komposizion zusammen gefügt ist, hineingezogen finde; wird es, bevor wir weiter gehen, edler Eurybates, nöthig seyn, uns auf den Punkt zu stellen, aus welchem das Ganze angeschaut seyn will, um richtig beurtheilt zu werden. Außer mehrern nicht unbedeutenden Nebenzwecken, welche Plato in seinen vorzüglichsten Werken mit dem Hauptzwecke zu verbinden gewohnt ist, scheint mir seine vornehmste Absicht in dem gegenwärtigen dahin zu gehen, der in mancherley Rücksicht äußerst nachtheiligen Dunkelheit, Verworrenheit und Unhaltbarkeit der vulgaren Begriffe und herrschenden Vorurtheile über den Grund und die Natur dessen, was Recht und Unrecht ist, durch eine scharfe Untersuchung auf immer abzuhelfen. Diesem großen Zwecke zu Folge zerfällt dieser Dialog in zwey Haupttheile. In dem einen, der das erste Buch und die größere Hälfte des zweyten einnimmt, ist es darum zu thun, die folgenden drey Lehrsätze, als die gemeine, von Dichtern, Sofisten und Priestern aus allen Kräften unterstützte, Meinung vorzutragen und auf alle Weise einleuchtend zu machen; nehmlich:

  1. daß der Unterschied zwischen Recht und Unrecht lediglich entweder auf willkührlicher Verabredung unter freyen Menschen, oder auf den Verordnungen regierender Machthaber beruhe, welche letztere natürlicher Weise die Gesetze, so sie den Regierten geben, zu ihrem eigenen möglichsten Vortheil einrichten, sich selbst aber nicht dadurch gebunden halten;
  2. daß die Ungerechtigkeit dem, der sie ausübt, immer vortheilhafter als die Gerechtigkeit, diese hingegen durch nichts als ihren bloßen Schein nützlich sey; daß also
  3. nur ein einfältiger und schwachherziger Mensch das mindeste Bedenken tragen werde, gegen die Gesetze zu handeln, so bald er es ungestraft thun könne. Woraus sich dann von selbst ergiebt: daß – da diese Art zu denken nicht nur den Kindern durch die Dichter (aus deren Gesängen sie den ersten Unterricht empfangen) beygebracht, und in den Erwachsenen durch alles was sie hören und sehen genährt, sondern sogar durch den religiösen Volksglauben und allerley priesterliche Veranstaltungen und Künste so kräftig verstärkt werde, – kein Wunder sey, wenn diese, jeden wirklich edeln und guten Menschen empörende Vorstellungsart über Recht und Unrecht so tiefe Wurzeln geschlagen habe und so verderbliche Früchte bringe, als die tägliche Erfahrung lehre.

Jene drey Irrlehren zu bestreiten, den wesentlichen Unterschied zwischen der Gerechtigkeit, im höchsten Sinn des Wortes, und ihrem Gegentheil überzeugend darzuthun, und zu beweisen,

daß sie das Ziel und die Vollkommenheit des edelsten Theils der menschlichen Natur sey;

daß der Mensch nur durch sie in Harmonie mit sich selbst und dem allgemeinen Ganzen gesetzt werde, und

daß, so wie die Ungerechtigkeit die Hauptquelle aller das menschliche Geschlecht drückenden Übel sey, die Gerechtigkeit hingegen das höchste Glück aller einzelnen Menschen sowohl als aller bürgerlichen Gesellschaften bewirken würde;

Alles dieß macht (die häufigen, zum Theil weitschichtigen Abschweifungen und Zwischenspiele abgerechnet) den Inhalt der übrigen acht Bücher aus, und das ganze Werk kann also als eine ernsthafte Entscheidung des alten Rechtshandels zwischen dem Dikäos und Adikos Logos betrachtet werden, welche der genialische Lieblingsdichter Platons vor mehr als vierzig Jahren in seiner eignen unübertrefflich possierlichen Manier, in ein paar Kampfhähne verkleidet, auf der Athenischen Schaubühne um den Vorzug hatte rechten lassen.

Was für eine Rolle der filosofische Dichter dem Sofisten Thrasymachus und dem wackern Glaukon zu spielen giebt, haben wir gesehen: nun läßt er auch Glaukons jüngern Bruder Adimanthus das Wort nehmen, und in einer Rede, die an Geist und Zierlichkeit mit dem Diskurs seines Bruders wetteifert, an Lebhaftigkeit und Wärme ihn noch übertrifft, den großen Schaden vorstellig machen, welchen Jünglinge edlerer Art nehmen müssen, indem sie sich an dem auffallenden Widerspruch stoßen, zwischen dem, was sie zu Hause aus dem Munde ihrer Väter hören, und dem was ihnen, so bald sie in die Welt treten, von allen Seiten entgegen schallt; wenn sie hören: wie eben dieselben aus Eingebung der Musen singenden Dichter bald die große Liebe und Sorge der Götter für die Gerechten, und das Glück, das sie ihnen in diesem und dem künftigen Leben bereiten, anrühmen; bald wieder den Pfad der Tugend als höchst mühselig, steil und mit Dornen verwachsen, den Weg des Lasters hingegen als breit, bequem und anmuthig schildern; itzt in den stärksten Ausdrücken und Bildern von dem Zorn der Götter über die Ungerechten und von den furchtbaren Strafen, die im Tartarus auf sie warten, reden; ein ander Mahl zum Trost aller Übelthäter versichern, daß auch die Götter selbst sich wieder herumbringen lassen, und durch Spenden, Gelübde und Opferrauch bewogen werden können, den Sündern zu verzeihen.

Alles was Plato seinen Bruder über diesen Gegenstand und die natürlichen Folgen der Eindrücke, die durch diese sich selbst widersprechenden, aber der Sinnlichkeit und den Leidenschaften schmeichelnden Vorspiegelungen auf lebhafte und nachdenkliche junge Gemüther gemacht werden, sagen läßt, kann schwerlich wahrer, stärker und schöner gesagt werden. Aber durch nichts wird mir Plato achtungswürdiger als durch die Freymüthigkeit, womit er den unendlichen Schaden rügt, den der Mißbrauch der herrschenden Volksreligion in den sittlichen Gefühlen und Urtheilen der Menschen anrichtet; und gewiß ist noch nie etwas treffenderes über diesen Punkt gesagt worden als die folgende Stelle aus dem Selbstgespräch, welches er einem solchen von Erziehern, Dichtern und vorgeblichen Filosofen irre gemachten Jüngling in den Mund legt. Nachdem nehmlich dieser aus allem, was er beym Eintritt in die Welt sieht und hört, das Resultat gezogen, »daß es zum glücklichen Leben nicht nur hinreiche, sondern sogar nöthig sey, sich mit der bloßen Larve der Rechtschaffenheit zu behelfen, um unter ihrem Schutz des Vortheils, ungestraft sündigen zu können, in vollem Maße zu genießen;« macht er sich selbst den Einwurf. »wenn es einem nun aber auch gelänge, die Menschen theils durch List und Überredung theils mit Gewalt dahin zu bringen, daß sie ihm erlauben müßten sich alles heraus zu nehmen was ihm beliebte, so wären dann doch noch die Götter da, gegen welche weder durch Betrug noch Gewalt etwas auszurichten sey. Wie aber (antwortet er sich selbst) wenn es, wie Einige behaupten, gar keine Götter giebt, oder wenn sie sich wenigstens, wie Andre versichern, um die menschlichen Dinge nichts bekümmern? – so brauchen auch wir uns nicht zu kümmern ob sie uns sehen oder nicht. Giebt es Götter, und nehmen sie sich der menschlichen Dinge an, so haben wir doch alles, was wir von ihnen wissen, aus keiner andern Quelle als vom Hörensagen, und am Ende bloß von den Dichtern, die ihre Genealogien verfaßt haben. Nun sagen mir aber eben diese Dichter, daß man den Zorn der Götter durch demüthige Abbitten, Opfer und Weihgeschenke von sich ableiten könne. Ich muß ihnen also entweder beides glauben, oder weder dieß noch jenes. Glaube ich, nun wohlan! so begeh' ich ungescheut so viel Unrecht als ich kann, opfre den Göttern einen Theil dessen was ich dadurch gewinne, und alles ist gut. Wollt' ich mich der Rechtschaffenheit befleißigen, so hätt' ich zwar von den Göttern nichts zu fürchten, dafür aber entgingen mir auch die Vortheile, die ich aus der Ungerechtigkeit ziehen könnte; da ich hingegen bey dieser immer gewinne, und alle Verbrechen, die ich um reich zu werden begehen muß, bey den Göttern durch Gebete und Opfer wieder gut machen kann. – »Aber (sagt man) am Ende werden wir doch im Hades für alles was wir im Leben Böses begangen haben, entweder in unsrer eignen Person oder in unsrer Nachkommenschaft bestraft.« – Auch davor ist Rath! Da kommen uns ja die Mysterien und feierlichen Reinigungen zu Statten, durch welche selbst die furchtbaren Götter der Unterwelt sich besänftigen lassen, wie mir ganze Städte, und die Dichter und Profeten unter den Göttersöhnen bezeugen. Was für einen Beweggrund könnt' ich also haben, die Gerechtigkeit der größten Ungerechtigkeit vorzuziehen, da ich diese nur mit einem guten Äußerlichen zu bedecken brauche, damit mir bey Göttern und Menschen im Leben und Sterben, alles nach Wunsch von Statten gehe, wie ich so viele und große Männer behaupten höre?«

Der junge Adimanth, der diese schöne Gelegenheit, ein Probestück seiner Wohlredenheit abzulegen, möglichst benutzen zu wollen scheint, fährt fort die Sache auf alle Seiten zu wenden, und findet ganz natürlich, der erste Grund des Übels liege darin: daß von den uralten heroischen Zeiten an bis auf diesen Tag niemand die Gerechtigkeit anders angepriesen oder die Ungerechtigkeit anders gescholten habe, als in Rücksicht auf die Ehre und die Belohnungen, welche jener, oder die Strafen, welche dieser nachfolgten. Was aber die eine und die andere an sich selbst sey, was sie folglich ihrem Wesen nach in der Seele des Gerechten oder Ungerechten wirke, wenn sie auch Göttern und Menschen verborgen blieben, nehmlich, daß die Ungerechtigkeit das größte aller Übel, womit eine Seele behaftet seyn kann, die Gerechtigkeit hingegen ihr größtes Gut sey, – dieß habe noch niemand weder in Versen noch in gemeiner Rede hinlänglich dargethan und ausgeführt. Er vereinigt sich also mit seinem Bruder Glaukon, aufs ernstlichste und mit Beweggründen, denen kein aufrichtiger Anhänger der Gerechtigkeit, und Sokrates am allerwenigsten, widerstehen konnte, in den letztern einzudringen, daß er sich nicht weigern möchte, einem so wichtigen Mangel abzuhelfen; und Sokrates, nachdem er sich eine Weile gesträubt und mit seinem Unvermögen, den von Glaukon so scheinbar behaupteten Vorzug der Ungerechtigkeit siegreich zu widerlegen, entschuldigt hat, wird endlich, von den vereinigten Bitten aller Anwesenden überwältigt, daß er wenigstens sein Möglichstes zu thun verspricht, der guten Sache zu Hülfe zu kommen und ihrem Verlangen Genüge zu leisten.

Daß Plato die Gelegenheit, die er selbst durch die in den Mund seiner Brüder gelegten schönen Reden herbeygeführt hatte, dazu benutzt, seiner Familie, und nahmentlich seinem Vater Ariston und seinen ältern Brüdern Glaukon und Adimanthus aus dem Munde eines Sokrates, zwar mit wenigen aber desto gehaltreichern Worten, ein Denkmahl zu errichten, welches wahrscheinlich, durch das Werk, worin es wie eine glänzende Spitze hervorragt, von ewiger Dauer seyn wird, wollen wir ihm auf keine Weise verdenken. Wenn das, was ihn dazu bewog, eine Schwachheit ist, so ist es wenigstens eine sehr menschliche, die ihm um so mehr zu gut zu halten ist, da er (wie ich kaum zweifle) durch einen Abschnitt in Xenofons Denkwürdigkeiten, worin Glaukon eine sehr armselige Figur macht, bewogen worden seyn mag, diesen seinen Bruder der Nachwelt in einem vortheilhaftern Lichte zu zeigen, und den Verdacht eines einbildischen, leeren, unwissenden Windbeutels und Schwätzers durch die That selbst von ihm abzuwälzen.

Bevor ich weiter gehe, Eurybates, wirst du mir wohl erlauben, dir, statt eines kleinen Zwischenspiels, meine eigenen Gedanken über die Frage, zu deren Beantwortung Platons Sokrates so weit aushohlt, in möglichster Kürze vorzulegen.

Glaukon behauptete im Nahmen der Lobredner der Ungerechtigkeit: Unrecht thun sey an sich etwas Gutes, Unrecht leiden hingegen an sich ein Übel. Ich habe schon bemerkt, daß ihm das doppelsinnige Wort adikein hier so viel als beleidigen heißen muß. Die Rede ist von Menschen, und zwar nicht von diesen oder jenen einzelnen, sondern von der ganzen Gattung. Was versteht er aber unter beleidigen? Ich weiß keine Formel, welche mir bequemer schiene alle Beleidigungen, die der Stärkere dem Schwächern zufügen kann, zusammen zu fassen als diese: andere zu bloß leidenden Werkzeugen unsrer Bedürfnisse und Lüste machen, und zu Befriedigung unsrer Leidenschaften und Launen uns alles über sie erlauben, wozu uns unsre Überlegenheit das Vermögen giebt. Wenn dieß seiner Natur nach gut ist; so muß es allen Menschen, überall und zu allen Zeiten gut seyn. Einander gegenseitig, eigenen Vortheils oder anderer Befriedigungen wegen, alle mögliche Beleidigungen zuzufügen gehört folglich wesentlich zur Natur des Menschen, oder mit andern Worten: es ist das, wodurch der Mensch den Forderungen der Natur und dem Zweck seines Daseyns ein Genüge thut. Sein natürlicher Zustand ist, ein geborner Feind aller andern Menschen zu seyn und unaufhörlich an der Beschädigung, Unterdrückung und Zerstörung seiner eigenen Gattung zu arbeiten. Indem nun jeder Mensch von seiner Natur getrieben wird, allen andern zu schaden, beleidigt er sie zwar dadurch, aber er thut ihnen kein Unrecht; im Gegentheil, da alles der Natur Gemäße in so fern recht ist, so ist es recht und völlig in der Ordnung, daß jeder allen andern so viel Übels zufüge als er kann, und dafür von allen andern so viel leide, als er zu leiden fähig ist. Wölfe, Tieger, Hyänen und Drachen wären also in Vergleichung mit dem Menschen sehr holde und gutartige Wesen; der letztere hingegen wäre das unnatürlichste aller Ungeheuer, die der Tartarus ausgespien hätte. – Welcher Unsinn? und doch ist es nichts, als was heraus kommt, wenn wir annehmen, Unrecht thun, oder beleidigen sey an sich, oder seiner Natur nach Etwas Gutes. Bedarf es einer andern Widerlegung einer so wahnsinnigen Behauptung – als sie auszusprechen?


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