Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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XVI
An Kleombrotus von Ambracien.

Ich danke dir, Lieber, für die guten Nachrichten, die du mir von unsern Freunden giebst. Mir ist angenehm, daß sie die Dauer der Poseidonien zu Ägina so genau ausrechnen; ich nehme es als ein Zeichen ihrer Zuneigung auf, daß sie mich so bald zurück verlangen, wiewohl mir leid wäre, wenn sie aus meinem langen Ausbleiben (wie sie es nennen) das Gegentheil von mir vermuthen wollten. Die Zeit ist vielleicht das zauberartigste Ding in der ganzen Natur, wenn man anders ein Ding nennen kann, was das, was es ist, bloß durch unsre Einbildung und unsern Maßstab wird. Eben dieselbe Zeit, sagt man, die dem Einen eine Stunde däuchte, dünkt dem Andern ein Augenblick, dem Dritten ein Tag, dem Vierten ein Jahrhundert. Ich denke, man könnte eben so gut sagen, sie ist es, für den nehmlich, dem sie es däucht; denn daß sie einem andern mehr oder weniger ist als mir, giebt ihm kein Recht zu fordern, daß es mir auch so seyn soll. Ich bin nun bereits – laß sehen! – zwanzig..... fünf und zwanzig ... acht und zwanzig ... wahrlich, beym großen Poseidon! ein und dreyßig Tage hier, und ich versichre dich, heute, am Morgen des zwey und dreyßigsten, ist mir, ich hätte die acht und zwanzig nur geträumt und sey erst vor drey Tagen in Ägina angekommen.

Was für ein Zauber kann das seyn, fragst du, der den kaltblütigen Aristipp zu einem solchen Schwärmer zu machen vermag? – Komm und siehe! – Du bist zu nahe bey mir, um zu erwarten, daß ich Stunden, die ich besser anwenden kann, Stunden, die für mich nur Augenblicke und gleichwohl, dem Sonnenzeiger nach, volle Stunden von drey tausend und sechs hundert Pulsschlägen sind, dazu verschwenden werde, dich mit schönen Beschreibungen, wie wohl mirs hier geht, zu unterhalten. Komm herüber, lieber Kleombrotus; was hast du in Athen zu versäumen? Oder kannst du nicht, wenn du es recht anfängst, für das, was du versäumst, überall Ersatz finden? Was wir in unserm Zirkel zu Athen filosofieren nennen, ist eine sehr gute Sache; nur zu viel ist nicht gut. Auch Ägina wird von den Musen besucht; du wirst sie mitten unter uns, oder uns mitten unter ihnen finden; und (was bey euch nicht immer der Fall ist) Arm in Arm mit den Grazien, und von Amorn mit Blumenketten gebunden. Du bedarfst einer kleinen Unterbrechung deiner gewöhnlichen Studien, die du mit einem so enthusiastischen Eifer betreibst, daß dein Magen und Unterleib, und (unter uns gesagt) dein Kopf selbst in Gefahr dabey gerathen. Auch darf ich dir nicht verhalten, daß mir vor dem feinen Netz ein wenig bange ist, womit die weise Aspasia dich zu umspinnen sucht. Fahre nicht auf, Lieber, und mache kein solches Gesicht an mich, als ob ich den Tempel zu Delfi beraubt, oder die Geheimnisse der Eleusinischen Göttinnen verrathen hätte! Aspasia ist unleugbar eine Frau von vieler und langer Erfahrung; von hohem Geist, großer Menschenkenntniß und feiner Lebensart, eine Meisterin in der Kunst zu reden und zu überreden; wahrlich, der klügste unter den dermahligen Demagogen zu Athen müßte noch lange bey ihr in die Schule gehen, bis er ihr alle die feinen Kunstgriffe abgelernt hätte, womit sie vor dreyßig Jahren den Mann, der Griechenland regierte, zu regieren wußte. Kurz, ich weiß alles, was du mir zur Rechtfertigung der hohen Meinung, die du von ihr gefaßt hast, sagen kannst. Aber was du nicht weißt, nicht siehst, nicht eher bis es zu spät ist sehen wirst, ist, daß die Freundschaft, die sie dir zeigt, nicht ganz so uneigennützig ist, als du dir einbildest. Denke nicht, sie habe immer so exemplarisch gelebt, wie sie jetzt zu leben scheint, da sie als Wittwe von zwey Athenischen Demagogen ihren sechzigsten Sommer heran nahen sieht. – »Ihren sechzigsten Sommer? rufst du aus; das ist unmöglich, wenn sie nicht von Heben oder Auroren das Geheimniß, niemahls alt zu werden, zum Geschenk erhalten hat.« – Das Geheimniß liegt in einem halben Dutzend Alabasterbüchschen auf ihrem Putztische, mein Freund. Glaube mir, ich kenne diesen Schlag von Weibern, und die Art, wie sie sich für die Mühe, ihre jungen Freunde zu bilden und in die Welt einzuführen, bezahlt zu machen pflegen, und ich könnte dir ein Lied davon singen, wiewohl mich keine von ihnen je gefangen hat. Mit dir ists ein anderes, mein lieber Enthusiast. Du bist (mit Erlaubniß zu sagen) eine unschuldige schwärmerische Motte, die dem Lichte zufliegt, weil sie von seinem Schein entzückt ist, und nicht eher erfährt, daß es auch brennt, bis sie mit versengten Flügeln am Boden zappelt. Laß dich warnen, Freund Kleombrotus; und wenn du jetzt, wie ich nicht zweifeln will, mit gewarnten Augen Entdeckungen machst, die dir meine Meinung von den Absichten der weisen Dame bestätigen; so eile dich von ihr los zu winden, und komm zu mir herüber. Solltest du einen Vorwand dazu nöthig zu haben glauben, so brauchst du ja nur ein Geschäft auf einer der Ägeischen Inseln vorzuschützen, und du begleitest mich dann auf der Reise, die ich in kurzem antreten werde, um die beträchtlichsten und berühmtesten derselben, Delos, Naxos, Samos, Chios und Lesbos zu besuchen. Fremde, wie wir, haben ohnehin den Cekropiden keine Rechenschaft zu geben, wenn wir ihr schönes, öhltriefendes, veilchenbekränztes Athen wieder zu verlassen für gut finden; wiewohl sie keinen Begriff davon zu haben scheinen, wie man auch anderswo, wo man nicht um zwey oder drey Obolen von Sardellen, Gerstenbrot und Knoblauch lebt, ein menschliches Leben führen könne.


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