Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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Wünsche mir Glück, Aristipp! Heute hab' ich einen ganzen Morgen mit meinem Liebhaber Sokrates auf der Burg von Athen unter vier Augen zugebracht; denn die ehrliche Haut Simmias von Theben und den feinen wohlerzogenen Kritobul, die ihn begleiteten, rechne ich für nichts, weil sie so bescheiden waren, uns fast immer allein zu lassen. Wir besahen alle Merkwürdigkeiten des Orts, der das Sublimste und Schönste, was Baukunst und Bildnerey in der Welt hervorgebracht haben, in keinem größern Raume vereiniget, als gerade nöthig war, um dem Auge alles unter einem einzigen Gesichtspunkte als das erhabenste Ganze darzustellen. Mir war als ob ich diese Wunder der Kunst zum ersten Mahl sähe, da ich sie mit Sokrates sah, wiewohl ich schon zuvor in Gesellschaft des Eurybates hier gewesen war. Am längsten verweilten wir, wie billig, unter den Propyläen, wo die schönsten Bildsäulen von Fidias, Alkamenes, Myron und Menon uns ein paar Stunden unterhielten. Sokrates, wiewohl in seiner Jugend selbst ein Bildhauer, sprach von diesen Werken mit der verständigen Bescheidenheit eines Mannes, der den Meißel seit vierzig Jahren nicht geführt hatte, und, seinem eigenen Urtheil nach, nie weiter als in den Vorhof der Kunst gekommen war. Indessen schien er mir Bemerkungen zu machen, wovon auch ein Meister hätte Vortheil ziehen können. Ich fragte ihn, in welche Rangordnung er die genannten Künstler stelle. Frage lieber dein eigen Gefühl, war seine Antwort. – »So ist Fidias der erste.« – Unstreitig, erwiederte er. In Fidias findet sich alles, was den großen Künstler macht, beysammen; er ist, so zu sagen, ein Homer, der, statt in Versen, in Marmor und Elfenbein dichtet. Ihm allein scheinen die Götter, die er bildete, wirklich erschienen zu seyn: Alkamenes bestrebte sich menschliche Gestalten zu göttlichen zu veredeln. Beide haben dem Myron nichts als den Vorzug der Grazie übrig gelassen. Menon, vielleicht der beste unter den Lehrlingen des Fidias, ist gegen diese drey – nichts als ein Lehrling. Eine Diane von Myron veranlaßte mich, den Wunsch hören zu lassen, daß ich die Grazien sehen möchte, welche Sokrates selbst in seiner Jugend gearbeitet hatte. Sie sind nicht werth von dir gesehen zu werden, versetzte er; ich bin nie mit ihnen zufrieden gewesen; aber seitdem ich deine Grazien kenne, würde ich die meinigen noch zehnmahl steifer und steinerner finden als sonst. – Meine Grazien? sagte ich verwundert: es sind allerdings drey liebliche Mädchen; aber doch – »Ich rede nicht von deinen Aufwärterinnen, schöne Anaximandra, ich meine deine eigenen Grazien«. – Mache mich nicht stolz, Sokrates; ich dachte nicht, daß du auch schmeicheln könntest. – »Zum Beweise, daß ich weder schmeichle noch scherze, will ich mich näher erklären. Ich habe, seitdem ich dich kenne, drey Dinge an dir bemerkt, die dich aus allen Schönen, die mir jemahls vorgekommen sind, auszeichnen, und dir gerade das sind, was der Liebesgöttin die Grazien. Das erste ist ein dir eignes, kaum sichtbares, deinen Mund, deine Augen, dein ganzes Gesicht sanft umfließendes Lächeln, das nie verschwindet, es sey, daß du sprichst oder einem andern zuhörst, auch sogar dann nicht, wenn du etwas mißfälliges siehest oder hörest, zu trauern oder zu zürnen scheinst: das zweyte, eine unnachahmlich zierliche Leichtigkeit im Gang und in allen Bewegungen und Stellungen des Körpers, die dir, wenn du gehest, etwas schwebendes, und wenn du in Ruhe bist, das Ansehen giebt, als ob du, ehe man sichs versehe, davon fliegen werdest; eine Leichtigkeit, die niemahls weder an sich selbst vergessende Lässigkeit noch an Leichtfertigkeit streift, und immer, mit dem edelsten Anstand und mit anspruchsloser angebornen Würde verbunden ist.« – Eine plötzliche Schamröthe ergoß sich, wie er dieß mit so viel anscheinender Treuherzigkeit sagte, über mein ganzes Gesicht, bey dem Gedanken, daß ich mit einem so guten und ehrwürdigen Manne am Ende doch nur Komödie spiele. – Gut, rief er, da haben wir deine dritte Grazie! diese holde Schamröthe, die Tochter des zartesten Gefühls, die dem Adel deiner Gesichtsbildung und dem Ausdruck des Selbstbewußtseyns nichts benimmt, und sich dadurch so wesentlich vom Erröthen der kindischen oder bäurischen Verlegenheit unterscheidet. Ein Bildhauer, der Genie und Kunst genug besäße, dieses Lächeln, diese Leichtigkeit und dieses Erröthen zu verkörpern und in Gestalt dreyer lieblicher Nymfen darzustellen, hätte uns die Grazien dargestellt.

Gestehe, Aristipp, daß es keine sehr leichte Sache war, in diesem Augenblicke nicht ein wenig aus meiner Rolle zu kommen. Aber Sokrates selbst half mir ohne sein Wissen wieder hinein. Ich sage dir dieß, fuhr er fort, weder um deine Eigenliebe zu kitzeln, noch weil es mir im geringsten schwer gewesen wäre, meine Bemerkungen für mich zu behalten; sondern, weil ich diese Gelegenheit nicht entschlüpfen lassen möchte, ohne dir die hohe Bestimmung zu Gemüthe zu führen, um derentwillen die Götter so viel Schönheit und Würde mit so viel Reitz und Anmuth in dir vereiniget haben.

Und nun, Freund Aristipp, setzte er sich mit mir unter den großen Öhlbaum vor dem Tempel der Athene Polias, und begann, mit einer ihm nicht gewöhnlichen Begeisterung, eine lange Rede über – Schönheit und Liebe. Er setzte als etwas, woran ich nicht zweifeln könne, voraus, daß beide ohne Tugend weder zu ihrer Vollkommenheit gelangen, noch von Dauer seyn könnten. Er bewies, indem er die Begriffe in seiner etwas spitzfindigen Manier sonderte und entwickelte, daß das Schöne und Gute im Grund eben dasselbe, und Tugend nichts anders als reine Liebe zu allem Schönen und Guten sey; eine Liebe, die vermöge ihrer Natur, gleich der Flamme, immer emporstrebe, durch nichts unvollkommnes befriediget werde, und nur im Genuß des höchsten Schönen, zu welchem sie stufenweis emporsteige, Ruhe finde. – Und was meinst du, daß er mit dem allen wollte? Nichts geringeres als mich überzeugen, »daß die Natur mich ganz eigentlich zu einer Lehrerin und Priesterin, ja noch mehr, zu einer unmittelbaren Darstellerin des Ideals der Tugend, mit Einem Wort, zur personificierten Tugend selbst bestimmt und ausgerüstet habe; und daß es also die erste meiner Pflichten sey, die Erreichung dieses hohen Ziels zum großen Geschäfte meines Lebens zu machen.«

Es würde mir kaum möglich seyn, nur den zehnten Theil der erhabenen Dinge, die er mir sagte, wieder zusammen zu bringen; aber des Schlusses seiner Rede erinnere ich mich noch von Wort zu Wort. »Wenn, sagte er, die Tugend sich sichtbar machen könnte, was für eine andere Gestalt als die deinige könnte sie annehmen wollen, um alle Herzen an sich zu ziehen und fest zu halten? Es hängt bloß von deinem Wollen ab, der Welt zu zeigen, daß sie sichtbar werden könne: und wenn Tyche dich zur Königin des ganzen Erdkreises erhübe, wie wenig wäre das gegen die Höhe, zu welcher du dich aus eigner Macht, ohne etwas anders als dich selbst vorzustellen, erheben kannst, bloß indem du die Pflicht, die dir deine Schönheit auferlegt, in ihrem Umfang erfüllst.«

Du wirst mir gern glauben, Aristipp, daß es mich einige Mühe kostete, die Bewegung zu verbergen, in welche mich diese sonderbare Anrede setzte. Was in seiner Moral überspannt war, that doch die komische Wirkung nicht, die es vielleicht in dem Munde eines andern gethan hätte. Ich fühlte es sehr wohl, aber ich hätte um alles in der Welt nicht darüber scherzen können; denn ich fühlte zugleich, daß etwas Wahres daran war, das sich nicht wegscherzen lassen würde. In diesem Augenblick, glaube ich, eilten mir die Grazien, die er selbst mir zugegeben hatte, alle drey zu Hülfe. Ich legte meine Hand mit einem kaum merklichen Druck auf die seinige, und sagte, indem ich ihm mit ernstem Lächeln erröthend in die Augen sah: der Ort, wo wir sind, und die sichtbare Gegenwart so vieler Götter und Heroen, die uns umgeben, hat dich mächtig ergriffen, ehrwürdiger Sokrates; du sprichst wie ein Begeisterter und beynahe wie ein Gott. Ich bin nur eine schwache Sterbliche; und doch schwebt auch mir ein hohes Ideal vor, das ich vielleicht nie erreichen werde. Ich hoffe dieses Morgens und aller andern Stunden, die ich in deiner Gesellschaft lebte, nie zu vergessen; und wenn ich –

Zu gutem Glücke zog mich Aristofanes, der auf einmahl hinter den Säulen hervorrauschend auf uns zugelaufen kam, aus der Verlegenheit, meine Periode auszuründen. Da wir uns schon öfters gesehen hatten, hielt er sich berechtigt, mich im Ton einer alten Bekanntschaft anzureden, und darüber zu scherzen, daß er mich mit dem weisen Sokrates so allein überrascht hätte. Dieser antwortete ihm mit der gewandtesten Leichtigkeit in eben demselben Ton, und beide bewiesen mir (da ich ihr wahres Verhältniß kannte) durch ihr Benehmen gegen einander, daß die attische Urbanität eine sehr preisliche Bürgertugend ist. Bald darauf gesellten sich noch mehrere Bekannte zu uns, und als sich der Komiker wieder entfernt hatte, sagte Sokrates lächelnd zu mir: an diesem Menschen könntest du gleich dein erstes Meisterstück machen, Anaximandra. – Ich würde schwerlich viel Ehre davon haben, versetzte ich, wenn Sokrates selbst in zwanzig Jahren nichts über ihn vermochte. – Keineswegs, erwiederte er, da du alles hast was mir fehlt. Schönheit, Anmuth und Jugend sind gar mächtige Anlockungen. – Aber ein so schlauer Vogel wie dieser, sagte ich, würde sich die Lockspeise belieben lassen und der Schlinge doch zu entgehen wissen.

Wir stiegen nun durch die Propyläen wieder in die Stadt herab, und ich konnte dem Einfall nicht widerstehen, meinen Blumenkranz abzunehmen, und die Bildsäule des großen Mannes damit zu krönen, dessen königlichem Geist Athen ihren hohen Glanz über alle andern Städte in der Welt zu danken hat.

So eben erhalte ich von Korinth Nachricht, daß der beschwerlichste meiner Nachsteller den Weg, den ich genommen, entdeckt habe, und morgen in Athen eintreffen werde. Er soll das Nest leer finden. Morgen mit dem frühesten fliege ich nach Korinth zurück. Aber damit sich doch die Athener eine Zeitlang meiner erinnern, muß ich noch etwas thun, das in ihrer Stadt vermuthlich noch nie gesehen worden ist. Ich habe alle Bekannte, die ich hier gemacht, junge und alte, zwanzig bis dreyßig an der Zahl, zu einem kleinen Abschiedsfest einladen lassen. Ein halb Dutzend Köche sind bereits in voller Arbeit; denn ich werde meine Gäste mit einem Symposion in Korinthischer und Cyrenischer Manier bewirthen. Alle Götter der Freude sollen von der Partie seyn; ich lasse die berühmtesten Citherspielerinnen und Auletriden dazu bestellen, und deine Grazien sollen alle ihre Talente in Gesang, Tanz und Mimik den Augen und Ohren der entzückten Cekropier Preis geben. Du siehst, es will sich nicht anders schicken, als daß die edle Anaximandra von Cyrene, die mit dem Pracht und Vergnügen liebenden Aristipp verwandt zu seyn die Ehre hat, den Athenern ihre Dankbarkeit für die gute Aufnahme, die sie bey ihnen fand, auf eine seiner würdige Art beweise; und muß ich nicht meinem erhabnen Liebhaber zeigen, daß seine Lehren und Ermahnungen auf keinen unfruchtbaren Boden gefallen sind? Denke ja nicht, daß ich seiner dadurch spotten wolle. Die Grazien haben auch ihre Filosofie, und er soll sehen, daß sie sich mit der seinigen, wenn sie anders nicht gar zu störrisch ist, ganz gut verträgt. Ob ich auch deinen sauertöpfischen Antisthenes zu der freundlichen Tugend bekehren werde, die, um die Herzen zu gewinnen, die Gestalt der Freude annimmt? Wir wollen sehen.

Ich melde dir von Eleusis aus, daß alles recht gut abgelaufen ist. Meine Gäste schienen von mir und meinem Gastmahl und den Talenten meiner Grazien bezaubert. Sogar die finstre Stirne des strengen Antisthenes entrunzelte sich. Den Sokrates allein glaubte ich bald ernsthafter bald ironischer zu sehen als gewöhnlich, und man hätte zuweilen denken sollen, er sey von der Polizey bestellt, mich zu beobachten, so scharfe Seitenblicke heftete er von Zeit zu Zeit auf mich. Aber Anaximandra machte es wie Hippokleides und ließ sichs nicht kümmern; oder vielmehr, sie begegnete ihm mit der zärtlichen Aufmerksamkeit einer guten Tochter, und schien nichts an ihm zu sehen, was ihre fröhliche Stimmung hätte unterbrechen können. Das Fest dauerte ziemlich weit in die Nacht, und Sokrates war einer der letzten, die sich zurück zogen. Nachdem die Gesellschaft sich in einzelne Gruppen getheilt hatte, und während die meisten den Spielen und Tänzen zusahen, fanden wir uns wie durch Zufall in einer Ecke des Sahls allein. Ich lenkte das Gespräch mit guter Art auf dich, und bat ihn, mir ganz offenherzig zu sagen, was er von dir denke. Aristipp, antwortete er, ist ein junger Mann von vorzüglichen Anlagen; als ein Liebhaber des Schönen möchte er auch wohl die Tugend lieben, wenn sie nur keine Opfer forderte. Seine Sinnesart ist edel; aber was ihm immer gefährlich seyn wird, ist sein Hang zu einem freyen Leben und zur Sinnenlust. ICH. Wir haben ihn nie ausschweifend gekannt. Sollte er die Gelegenheit, weiser bey dir zu werden, so wenig benutzt haben, daß er sich erst zu Athen verschlimmert hätte? SOKRATES. Auch ich habe ihn nie über die Grenzlinien des Wohlanständigen hinaus schweifen sehen, und über einen gewissen Punkt beschämt seine Unsträflichkeit unsre meisten Jünglinge. Aber sein letzter Aufenthalt zu Ägina machte mich vielleicht seinetwegen besorgter als nöthig war. ICH. Wie so? Hat man dir vielleicht von seiner Anhänglichkeit an eine gewisse Lais von Korinth gesprochen? SOKRATES. Ich höre wenig auf Gerüchte. Sie soll außerordentlich schön, geistvoll und liebenswürdig seyn; und eben darum halte ich sie bey der freyen Denkart, wovon sie Profession macht, für eine sehr gefährliche Zauberin. ICH. Sokrates, du siehst Anaximandren jetzt zum letzten Mahl, und sie könnte sich nicht verzeihen, dich länger zu täuschen. Ich selbst bin diese Lais, die du unter einem andern Nahmen liebenswürdig gefunden hast, und die dir in diesem Augenblick des Scheidens gesteht, daß sie dich allen Männern vorzieht, die sie jemahls gesehen hat. SOKRATES. Deine Aufrichtigkeit, schöne Lais, ist der Erwiederung werth: Du sagst mir nichts neues; schon diesen Morgen wußte ich wer du warst. Du glaubtest ich schwärme; jetzt begreifst du, daß ich bey ruhigem Muthe war. Lebe wohl, und erinnere dich zuweilen an den Öhlbaum der Polias! – Ich konnte mich nicht erwehren, meinen Mund auf seine Hand zu bücken, und so wahr mir Urania gnädig sey, eine Thräne, glaube ich, fiel auf sie herab. Er drückte die meinige und entfernte sich.


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