Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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XXVIII.
Lais an Aristipp.

Wenn du nicht gar zu sehr über mich lachen wolltest, Aristipp, so hätte ich große Lust dir einen Traum zu erzählen, den ich diesen Morgen geträumt habe.

Du erinnerst dich vielleicht noch der geflügelten Köpfe, von denen einst bey Gelegenheit des Platonischen Fädons zwischen uns die Rede war. Hättest du dir wohl einfallen lassen, daß diese Köpfe nach so vielen Jahren noch in dem meinigen zu spüken anfangen würden? Gleichwohl ist es geschehen, und (was ich wohl zu bemerken bitte) ohne daß ich mir irgend einer Veranlassung zu einer so seltsamen Träumerey bewußt bin. Die Sache ist so sonderbar, daß ich mich nicht erwehren kann ein wenig lächerlich in deinen Augen zu erscheinen, da du doch natürlicher Weise denken mußt, ich würde dir meinen Traum nicht erzählen, wenn ich ihm nicht eine gewisse Wichtigkeit beylegte, die ein Traum, wie außerordentlich er auch seyn mag, bey keiner verständigen Person haben sollte. Sey es darum! – Hier ist der meinige mit allen seinen Umständen, deren ich mich so lebhaft erinnere, als ob mir alles bey offnen Augen begegnet wäre.

Ich befand mich in einem von den anmuthigen, mit unzähligen schönen Bäumen besetzten Lustgärten, die man in dem Persischen Asien Paradiese zu nennen pflegt. Noch nie hatte ich mich so heiter und leicht gefühlt; mich däuchte als ob ich wie eine Flaumfeder auf einem Wölkchen daher schwimme. Und so war es auch beynahe; denn wie ich mich genauer betrachtete, zeigte sichs, daß ich ein bloßer Kopf mit zwey prächtigen Goldfasanen-Flügeln war. Ohne mich diese Verwandlung im geringsten befremden zu lassen, flog ich, so frey und unbefangen, als hätte ich nie eine andere Art zu Seyn gekannt, in dem reitzenden Paradiese umher, und setzte mich endlich auf einen Granatbaum, um mich an den Farben und Wohlgerüchen einer unendlichen Menge der schönsten Blumen zu ergetzen, die dem Boden unter meinen Blicken zu entsprießen schienen. Plötzlich sah ich mich von mehr als tausend gelb- braun- und schwarzlockigen Flügelköpfen umringt, die von allen Seiten auf mich zugeflogen kamen, und über meinen Anblick ganz entzückt zu seyn schienen. Die meisten schlossen in einiger Entfernung einen Kreis um mich her, so groß und schimmernd wie ein Regenbogen, wenn die Sonne schon tief in Westen steht. Einige kamen näher herbey, redeten mich an und thaten ihr möglichstes, meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und meiner Eigenliebe zu schmeicheln. Die mannigfaltigen Fysionomien dieser Köpfe, ihre Redseligkeit, das Feuer, womit jeder sich durch das, worauf er sich am meisten einbildete, bey mir geltend zu machen suchte, kurz alle die lächerlichen Gestalten, in welchen ihre Eitelkeit und Selbstgefälligkeit sich mir zum Besten gab, belustigten mich eine ziemliche Weile; zumahl da immer neue Köpfe aus dem Kreise herbeyflatterten, und die zuvorgekommenen durch allerley kleine Kunstgriffe zu verdrängen suchten. Nach und nach erkannte ich beynahe alle meine Bekannten unter ihnen; nur nach dir sah ich mich vergebens um. Des schalen Spiels mit so vielen leeren Köpfen endlich überdrüssig, machte ich mich von ihnen los, durchstöberte, dich aufsuchend, alle Gänge und Lauben des Lusthains, und glaubte endlich deinen Kopf aus einem dunkeln Busch hervorragen zu sehen; wie ich aber hinzuflog, war es Arasambes, der mich in diesem Hinterhalte belauert zu haben schien, und mir über die Gefälligkeit, womit ich seine Nebenbuhler anhöre, die bittersten Vorwürfe machte. Unwillig wandt' ich mich von ihm weg, und sah mich auf einmahl in meine Gärten zu Ägina versetzt, in einen deiner ehmahligen Lieblingsplätze, wo die Nymfe von Skopas am Abhang eines mit Epheu und wilden Reben bewachsnen Felsen den kleinen Silberbach aus ihrer Urne gießt, der sich durch das benachbarte Myrtenwäldchen nach dem Tempel der Grazien hinschlängelt. Hier werd' ich ihn unfehlbar finden, dacht' ich, und wie ich mich umsehe, erblick' ich – den kleinen Gott der Liebe, schlummernd auf die Moosbank hingegossen, über welche (wenn du dich noch erinnerst) der hohe Busch mit den glühenden Essigrosen herabnickt. Sein goldner Bogen und etliche Pfeile lagen neben ihm. Ein nie gefühlter Schauer fuhr bey seinem Anblick durch mein ganzes Wesen; ich kannte mich selbst nicht mehr; es war mir als ob eine unsichtbare Hand alle Bilder der Vergangenheit aus meiner Seele wegwische und ich erst jetzt zu leben anfange. Meine Augen unverwandt auf den schönen Schläfer geheftet, flog ich leise und schüchtern näher hinzu, um den süßen Athem seiner Purpurlippen einzusaugen, in Gefühlen zerschmelzend, die mir zu neu waren, als daß ich sie dir beschreiben könnte. Möcht' er doch, dacht' ich, wie Endymion auf der Stirn des Latmos, nie erwachen, damit ich ihn ewig ungestört anschauen könnte; aber indem ich es dachte, wacht' er auf. Ich fuhr zurück, aber mich zu entfernen war mir unmöglich. Unbeweglich blieb ich, wie eine in Elektron eingeschloßne Mücke, ihm gegen über in der Luft hangen. »Welch ein schöner Vogel! – rief er, mit einem schalkhaft lächelnden Blick einen Pfeil auf seinen Bogen legend – der soll mir nicht entgehen!« Indem er nach mir zielte, gab mir die Angst plötzlich die Bewegung wieder. Ich sank zu seinen Füßen und flehte ihm so rührend meiner zu schonen, daß er den Bogen von sich warf, und mich mit Blicken voll Zärtlichkeit betrachtete. Außer mir vor Entzücken flatterte ich mit ausgebreiteten Flügeln an seinem schönen Busen hinauf. Plötzlich verwandelte er sich in einen wunderschönen Jüngling, und ich selbst glaubte unter den Liebkosungen, womit er mich überhäufte, meine vorige Gestalt wieder zu erhalten. Aber der Grausame trieb nur sein Spiel mit mir. Wie ein Aal glitschte er aus meinen um ihn geschlungenen Armen, setzte sich in seiner ersten Amorsgestalt auf meinen Schooß, und begann die goldnen Schwingfedern eine nach der andern aus meinen Flügeln zu ziehen. Ich ließ es geschehen, weil ich sah, daß es ihm Vergnügen machte; denn was hätte ich nicht für ihn gethan und gelitten? Aber so bald er die letzte ausgerupft hatte, spannte der Schalk seine Flügel aus, und flog lachend mit seiner Beute davon. Von unaussprechlichem Schmerz erdrückt, wollt' ich ihm nacheilen, aber fort waren meine Schwingen, ich sank zu Boden, und – erwachte, mit schrecklichem Herzklopfen, an dem ängstlichen Schrey womit ich dem fliehenden nachgerufen hatte.

Was sagst du zu diesem Traum, Aristipp? Ist er nicht seltsam? Und wie komme ich zu einem solchen Traume? Bin ich abergläubig, wenn ich ihn für etwas mehr als ein bloßes Spiel der Fantasie halte? Ist es Ahnung oder Warnung von meinem guten Genius? Wenn das, was der Flügelkopf, der mir in diesem Traume mein Ich gestohlen hat, für den Sohn Cytherens fühlte, Liebe ist, so hab' ich nie geliebt; und wahrlich, nachdem ich mich meiner selbst wieder bemächtigt habe, wünsch' ich wachend nie etwas ähnliches zu erfahren.

Aber bin ich nicht eine Thörin, daß ich mich von einem Traum beunruhigen lasse? – Seitdem wir uns zum ersten Mahle zu Korinth sahen, sind bereits über zwanzig Jahre verflossen – ich habe während dieser Zeit die auserlesensten Jünglinge und Männer Griechenlands gekannt, habe mit dir, habe mit dem schönen Arasambes gelebt, und mich immer von dieser heillosen Leidenschaft frey erhalten; und sollte noch einen Zweifel in mich selbst setzen? Sollte mich fähig wähnen, dem Alter der Weisheit so nahe, noch zum gemeinen Weibe herabzusinken? – Nein, Aristipp! Ich kann und will nicht glauben, was uns die Dichter überreden wollen, daß eine Fädra, eine Smyrna, eine Helena, im Zorn der Göttin, wider ihren Willen mit einer unwiderstehlichen Leidenschaft gestraft worden sey! – Aber freylich, wenn so weise Männer wie Sokrates und Xenofon auf die Seite der Dichter treten, und von der Liebe als einer Leidenschaft reden, über welche die Vernunft keine Gewalt hat, und von welcher man eben so unversehens wie von einem Fieber überfallen werden kann, das könnte doch wohl einen Weiberkopf, der nie auf große Weisheit Anspruch gemacht hat, ein wenig aus der Fassung bringen? Ich weiß nicht, ob dir Xenofons Cyropädie bereits zu Gesichte gekommen, da es noch nicht lange ist, daß Abschriften davon bey den Bibliopolen zu haben sind. Auf alle Fälle schicke ich dir hier ein Exemplar, das ich von dem besten Schönschreiber in Korinth für dich habe abschreiben lassen; denn ich kann das Vergnügen, so mir dieses in seiner Art einzige Dichterwerk gemacht hat, nicht bald genug mit dir theilen. Unglücklicher Weise wirst du einen gewissen Araspes darin finden, der über die Macht der Liebe eben so profane Gedanken hegte wie wir, aber seinen Übermuth durch eine schreckliche Erfahrung büßen mußte. Ich gestehe dir, nicht ohne Schamröthe, daß mir beym Lesen dieser Geschichte das Herz ein wenig pochte, und bald darauf kam mir der verhaßte Traum!

Ich bitte dich, Freund Aristipp, beruhige mich wenn du kannst; oder ist dir irgend ein Moly gegen den Zauber der Liebe bekannt, auf dessen Tugend man sich verlassen kann, so sage mir wo es zu finden ist, und ich gehe selbst es zu suchen, wenn ich es auch aus dem Schnee des Kaukasus hervorscharren müßte.


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