Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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Dessen ungeachtet ist und bleibt es Thatsache, daß der rohe Stand der natürlichen Gleichheit für die Menschen, die sich darin befinden, eine Art von Kriegsstand Aller gegen Alle ist; nicht, als ob die Menschen, ohne einen Grad von Ausartung, der sie tief unter die wildesten Thiere erniedrigen würde, jemahls das Gefühl, daß es unnatürlich, folglich Unrecht sey einander zu beleidigen, verlieren könnten; sondern weil die sinnlichen Triebe und Leidenschaften, wodurch sie zu Beleidigungen hingerissen werden, im Augenblick der aufbrausenden Leidenschaft oder eines unwiderstehlich dringenden Bedürfnisses stärker sind als jenes Gefühl, welches im Grunde nichts als die Stimme der Vernunft selbst zu seyn scheint. Aus dieser Thatsache folget nun freylich, daß die Menschen sich durch eine gebieterische Nothwendigkeit gedrungen finden, in gesellschaftliche Verbindungen zu treten, und sich Gesetzen zu unterwerfen, die ihrer Aller Erhaltung und Sicherheit beabsichtigen, und in so fern ihrer Aller gemeinsamer Wille sind; aber diese Verbindungen, diese Gesetze sind nicht die Quellen, sondern Resultate des allen Menschen natürlichen Gefühls von Recht und Unrecht, welches einem jeden sagt, daß alles was nur Einem und allenfalls seinen Mitgenossen und Spießgesellen nützt und allen übrigen schadet, Unrecht sey. Es ist also Unsinn, zu sagen: die Menschen machten sich durch den gesellschaftlichen Verein nur in so fern zu Beobachtung der Gesetze anheischig, als sie solche nicht ungestraft übertreten könnten; auch bedürfen wir keiner solchen, die allgemeine Vernunft in Widerspruch mit sich selbst setzenden Hypothese, um zu begreifen, wie es zugeht, daß in jedem Staat nicht wenige, und in einem sehr verdorbenen die Meisten, in der That so handeln, als ob sie sich die Freyheit zu sündigen, so bald sie keine Strafe befürchten, ausdrücklich oder stillschweigend vorbehalten hätten.

Wenn ich nicht sehr irre, so hätte sich also der Platonische Sokrates die Mühe, mehr als zwölf Stunden lang in Einem Zug fort zu reden, ersparen können, wenn er, anstatt die Auflösung der Frage aus dem Lande der Ideen herab zu hohlen, es nicht Unter seiner Würde gehalten hätte, sich an derjenigen genügen zu lassen, die vor seinen Füßen lag. Weder unsre fünf Sinne noch unser Verstand reichen bis zu dem, was an sich selbst ein Gut oder ein Übel ist: was mir und meiner Gattung zuträglich ist, nenne ich gut; das Gegentheil, böse. Die Natur selbst nöthigt mich, in jedem Menschen ein Wesen meiner Gattung zu erkennen. Wenn Unrecht leiden, d.i. im freyen Gebrauch meiner Kräfte zu meiner Erhaltung und zu Beförderung meines Wohlstandes gewaltsam gehindert zu werden, für mich ein Übel ist, so ist eben dasselbe auch ein Übel für jeden andern Menschen. Also Eines von Beiden: entweder der Mensch ist das einzige Ungeheuer in der Welt, dessen natürliches Bestreben unaufhörlich dahin geht, seine eigene Gattung zu zerstören: oder jede Beleidigung eines Menschen ist ein Übel für das ganze Menschengeschlecht, und also auch (ungeachtet des augenblicklichen Vortheils, den der Beleidiger daraus ziehen mag) ein wahres Übel für diesen selbst, indem er dadurch alle andere Menschen reitzt und berechtigt, sich auch gegen ihn herauszunehmen, was er sich gegen einen von ihnen erlaubte und gegen jeden andern, so bald er Gelegenheit und Vermögen dazu hat, sich zu erlauben bereit ist. Alle Menschen haben, als Menschen, gleiche Ansprüche an den Gebrauch ihrer Kräfte, und an die Mittel, welche die Natur, der Zufall und ihr eigener Kunstfleiß ihnen zu ihrer Erhaltung und zu Beförderung ihres Wohlbefindens darreichen. Wer dieß anerkennt und diesem gemäß handelt, ist gerecht, ungerecht also, wer alles für sich allein haben will, und das Recht der übrigen nicht anerkennt, oder thätlich verletzt. Mich dünkt, zwey Sätze folgen nothwendig und unmittelbar aus dieser durch sich selbst klaren Wahrheit: erstens, daß jeder Mensch, der einen andern vorsetzlich beleidigt, sich eben dadurch für einen Feind aller übrigen erklärt; zweytens, daß so bald mehrere Menschen neben einander leben, zu eines Jeden Sicherheit entweder ein stillschweigend zugestandener oder ausdrücklich unter ihnen geschlossener Vertrag vorwaltet, »Jedem auf das, was er sich ohne Beraubung eines andern erworben hat, ein unverletzliches Eigenthumsrecht zuzugestehen.« In dieser Rücksicht kann also mit vollkommenem Grunde gesagt werden: Jedem das Seinige – nicht zu geben (denn er hat es schon) sondern zu lassen, und im Fall, daß es ihm mit Gewalt genommen worden, ihm entweder zur Wiedererlangung des Geraubten oder zu einer angemeßnen Entschädigung zu verhelfen, werde von allen Menschen auf dem ganzen Erdboden Gerechtigkeit genennt, oder, falls sie noch keine Worte zu Bezeichnung allgemeiner Vernunftbegriffe hätten, als Gerechtigkeit gefühlt und anerkannt.

Mit dieser kurzen Beantwortung der von Sokrates aufgeworfenen Frage könnten wir, dünkt mich, allen Sofisten und Rechtsverdrehern in der Welt die Stirne bieten; auch würde Plato selbst Mühe gehabt haben, die Untersuchung und Festsetzung dessen, was Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ist, über den gewöhnlichen Umfang seiner Dialogen auszudehnen, wenn er sich innerhalb der Grenzen des gemeinen, dem Sprachgebrauch gemäßen Sinnes der Worte hätte halten wollen. Da er aber diesem unvermerkt einen andern höhern und mehr umfassenden unterschob, indem er den gewöhnlichen Begriff der Gerechtigkeit (ohne uns jedoch davon zu benachrichtigen) mit seiner Idee von der höchsten geistigen und sittlichen Vollkommenheit, welche, seiner Meinung nach, der menschlichen Natur erreichbar ist, bald vermengt bald verwechselt: öffnete sich seiner dichterischen Fantasie ein unabsehbares Feld, wo sie sich nach Gefallen erlustigen konnte, und Stoff genug fand, einen Kreis von gefälligen Zuhörern eben so gut zehen Tage lang zu unterhalten als einen.

Indessen sehe ich nicht warum wir ihm auch diese Freyheit nicht zugestehen sollten. Jeder Schriftsteller hat unstreitig das Recht, sich seinen Stoff nach Belieben zu wählen, und ihn zu bearbeiten, wie es ihm gut dünkt; und wenn er nur, wie Plato, dafür gesorgt hat, uns, so bald wir zu gähnen anfangen, durch wohl angebrachte Reitzmittel wieder zur Aufmerksamkeit zu nöthigen, so wär' es unbillig und undankbar, wenn wir uns beklagen wollten, daß er uns weit mehr vorsetzt als nöthig, oder selbst für eine reichliche Befriedigung unsres Bedürfnisses genug gewesen wäre. Hätte Er sich auf das reichlich Genugsame einschränken wollen, so stand es nur bey ihm, die Aufgabe, so wie er sie gestellt hatte, geradezu zu fassen; und da es ihm, Kraft seiner filosofischen Machtgewalt, beliebt hatte, den gemeinen und zum Gebrauch im Leben völlig zureichenden Begriff der Gerechtigkeit zu verlassen, und die Idee der höchsten Richtigkeit und Vollkommenheit der Menschlichen Natur an seine Stelle zu setzen, so bedurfte es, meines Bedünkens, keiner so weitläufigen und künstlichen Vorrichtung, um ausfündig zu machen, worin diese Vollkommenheit bestehe. Es gehörte wirklich eine ganz eigene Liebhaberey »Knoten in Binsen zu suchen« dazu, die Sache so außerordentlich schwer zu finden, und selbst ohne alle Noth einen Knoten nach dem andern in die Binsen zu knüpfen, bloß um das Vergnügen zu haben sie wieder aufzulösen. Ich zweifle sehr, daß ihm hier die Ausrede zu Statten kommen könne, er lasse seinen Sokrates sich nur darum so stellen, als ob er selbst noch nicht wisse, wie er die vorgelegte Aufgabe werde auflösen können, – um die Täuschung der Leser, als ob sie hier den berüchtigten Eiron wirklich reden hörten, desto vollkommnen zu machen. Man könnte dieß allenfalls für eine Rechtfertigung gelten lassen, wenn die Rede anstatt von einem Gegenstande, womit sich Sokrates so viele Jahre lang tagtäglich beschäftigte, von irgend einer räthselhaften spitzfündigen Frage gewesen wäre; oder auch, wenn er es, anstatt mit so verständigen, gebildeten und lehrbegierigen jungen Männern, wie Glaukon und Adimanthus sich gezeigt haben, mit unwissenden Knaben oder naseweisen Gecken zu thun gehabt hätte. Man könnte zwar einwenden, daß diese Gebrüder in dem größten Theil unsers Dialogs fast immer die Rolle unwissender Schulknaben spielen, und daß Sokrates häufig Fragen an sie thut, durch welche ein Knabe von zwölf Jahren sich beleidigt finden könnte: aber wenn Plato dieß wirklich in der Absicht that, die langweilige Art, wie Sokrates ihren Ideen zur Geburt hilft, zu rechtfertigen, so hätte er nicht vergessen sollen, daß er sie kurz vorher wie verständige und scharfsinnige Männer reden ließ. – Doch sein Sokrates ist nun Einmahl in der Laune seinen Spaß mit uns zu haben, und wir müssen uns schon gefallen lassen, in einer weitkreisenden Schneckenlinie endlich auf den nehmlichen Punkt mit ihm zu kommen, zu welchem er uns auf einer ziemlich geraden mit wenig Schritten hätte führen können.

Sehen wir also (wofern du nichts bessers zu thun hast) wie er es anfängt, seinen erwartungsvollen, mit gespitzten Ohren und offnen Schnäbeln seine Worte aufhaschenden Zuhörern zum ächten Begriff der Gerechtigkeit zu verhelfen. Da die Sache so große Schwierigkeiten hat, und wir uns nicht anders zu helfen wissen (sagt er, die Rede an Adimanthen richtend) so wollen wir's machen, wie Leute von kurzem Gesicht, die eine sehr klein geschriebene Schrift von ferne lesen sollten, es machen würden, wenn einer von ihnen sich besänne, daß eben diese Schrift irgendwo an einem erhabnern Orte in größern Buchstaben zu lesen sey. Diese Leute würden, denke ich, nicht ermangeln die letztere zuerst zu lesen, um durch Vergleichung der größern Buchstaben mit den kleinern zu sehen, ob nicht etwa beide eben dasselbe sagten. Ohne Zweifel, versetzt Adimanth; aber wie paßt dieß auf unsre vorhabende Untersuchung? Das will ich dir sagen, erwiedert Sokrates. Ist die Gerechtigkeit bloß Sache eines einzigen Menschen, oder nicht auch eines ganzen Staats? Adimanth hält das letztere für etwas ausgemachtes, wiewohl ich nicht sehe warum, da das, was die Gerechtigkeit sey, als etwas noch unbekanntes erst gesucht werden soll. Aber, daß Glaukon und Adimanth zweifelhafte und ohne Beweis nicht zuzugebende, ja wohl gar ganz unverständliche Sätze, der Bequemlichkeit des Gesprächs wegen bejahen, oder wenigstens gelten lassen, begegnet im Verfolg der ganzen Unterhaltung noch so oft, daß wir uns bey dieser Kleinigkeit nicht aufhalten wollen. – Aber ist ein Staat nicht größer als ein einzelner Mann? fragt Sokrates. Größer, antwortet der Knabe, voller Freude vermuthlich, daß er hoffen kann es getroffen zu haben. Wahrscheinlich wird also (fährt der Schulmeister fort) auch die Gerechtigkeit im Größern besser in die Augen fallen und leichter zu erkennen seyn. Gefällt es euch, so forschen wir also zuerst, was sie in ganzen Staaten ist, und suchen dann, indem wir in der Idee des Kleinern die Ähnlichkeit mit dem Größern bemerken, heraus zu bringen, was sie in dem einzelnen Menschen ist. – Wohl gesprochen, sollt' ich meinen, sagt Adimanth. – »Nun däucht mich, wenn wir in Gedanken ein Gemeinwesen vor unsern Augen entstehen ließen, würden wir auch sehen, wie Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in ihm entstehen.« – Könnte wohl seyn, versetzt Jener. »Und wenn das wäre, sollte nicht Hoffnung seyn, desto leichter zu finden was wir suchen?« – Viel leichter. – »Mich däucht also wir thäten wohl, wenn wir ohne Weiters Hand anlegten; denn es ist, meines Erachtens, kein kleines Werk. Bedenkt euch also!« – Da ist nichts weiter zu bedenken, sagt Adimanth, des langen Zauderns, wie es scheint, überdrüssig; thu nur das Deinige dabey!

Und so stehen wir denn vor dem Thor dieser Republik, die uns Plato, ihr Stifter und Gesetzgeber, durch den Mund seines immer währenden Stellvertreters für das Ideal eines vollkommenen Staats ausgiebt, an dessen Realisierung er selbst verzweifelt; deren Erbauung und Einrichtung ihn in einem großen Theil dieses Werks ernstlich beschäftigt, und die er gleichwohl weder um ihrer selbst willen, noch in der Absicht daß sie irgend einem von Menschenhänden errichteten Staate zum Muster dienen sollte, sondern (wie er sagt) bloß deswegen mit so vieler Mühe aufgestellt hat, um seinen Zuhörern an ihr zu dem einzig wahren Begriff von dem, was Gerechtigkeit in der menschlichen Seele ist, zu verhelfen.

Eine Einwendung, die sich beym ersten Anblick aufdringt und daher, in Cyrene wenigstens, am häufigsten gehört wird, ist: es sey unbegreiflich, wie Plato nicht gesehen habe, daß, wofern zuvor aufs Reine gebracht wäre, was die Gerechtigkeit bey einem einzelnen Menschen sey, die Frage, was sie in einem ganzen Staat sey? sich dann von selbst beantwortet hätte: da hingegen diese letzte Frage nicht ausgemacht werden könne, ohne den Begriff der Gerechtigkeit schon voraus zu setzen; denn der Staat bestehe aus einzelnen Menschen, und nur in so fern als diese gerecht seyen, finde Gerechtigkeit in jenem Statt. – Es wäre in der That unbegreiflich, wenn ein so scharfsichtiger Mann wie Plato diesen Einwurf nicht voraus gesehen hätte. Er kann ihm aber nur von Solchen gemacht werden, die mit den Mysterien seiner Filosofie gänzlich unbekannt sind. Plato setzt bey allen seinen Erklärungen, wovon auch immer die Rede seyn mag, eine Art dunkler aber wahrer Vorstellungen voraus, abgebleichte, durch den Schmutz der Sinnlichkeit und den Rost der Gewohnheit, womit sie bedeckt sind, unkenntlich gewordene Schattenbilder der ewigen Ideen alles dessen was ist, dumpfe Erinnerungen, welche unsre Seele aus einem vorher gehenden Zustand in dieses Leben mitgebracht, die sich zu deutlichen Begriffen des Wahren eben so verhalten wie Ahnungen zu dem was uns künftig als etwas Wirkliches erscheinen wird, und in deren Anfrischung und Reinigung aller Unterricht besteht, womit die Filosofie unsrer Unwissenheit und Afterwissenschaft zu Hülfe kommen kann. Dieses aus der Welt der Ideen mitgebrachte dunkle Bild der wesentlichen Gerechtigkeit in seinen Zuhörern aufzuklären, ist itzt das Geschäft des platonisierenden Sokrates. Sie besteht, nach ihm, in dem reinsten Zusammenklang aller Kräfte zur möglichsten Vollkommenheit des Ganzen unter der Oberherrschaft der Vernunft. Um dieß seinen Hörern anschaulich zu machen, war es allerdings der leichtere Weg, zuerst zu untersuchen, wie ein vollkommen wohl geordneter Staat beschaffen seyn müsse; und erst dann, durch die entdeckte Ähnlichkeit zwischen der innern Ökonomie unsrer Seele mit der wesentlichen Verfassung und Verwaltung eines wohl geordneten Gemeinwesens, die wahre Auflösung des Problems, welche Glaukon und Adimanth im Nahmen der übrigen Anwesenden von Sokrates erwarteten, ausfündig zu machen. Auf diese Weise wurden sie in der That vom Bekanntern und gleichsam in größern Karakteren in die Augen Fallenden auf das Unbekanntere geführt; denn was der Mensch gewöhnlich am wenigsten kennt, ist das Innere dessen was er seine Seele nennt.


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