Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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XLIII.
An Ebendenselben.

Das neue Palladion unsrer Stadt ist nun fertig, und (wie die Cyrener ein rasches und ungeduldiges Völkchen sind) von der allgemeinen Volksversammlung mit großem Jubel angenommen und eingeführt worden. Dir die innere Organisazion unsrer mit Griechenland in keiner Verbindung stehenden Republik bis in ihren kleinsten Ästen und Zweigen darzulegen, möchte dir und mir zu langweilig seyn: ich begnüge mich also, dir nur das Wesentlichste, und auch dieß nur mit den äußersten Linien, vorzuzeichnen.

Die höchste Staatsgewalt ist in einer ziemlich zweckmäßigen Proporzion (wie mich däucht) zwischen dem Senat, welcher ausschließlich aus den ältesten und begütertesten Familien genommen wird, und dem Volk, oder vielmehr dem aus dem Mittel desselben erwählten großen Rath, der das Volk vorstellt, vertheilt. Der Senat besteht aus hundert Personen, die ihren Platz in demselben lebenslänglich behalten. Der Vorsitzer, Epistates genannt, ist das Haupt der ganzen Republik; er hat das große Siegel in seiner Verwahrung, und, da er für die Ausführung der Beschlüsse des Senats verantwortlich ist, so ist jeder Bürger von Cyrene ohne Ausnahme seinen Befehlen und Aufträgen schleunigen und unverweigerlichen Gehorsam schuldig. Er besitzt aber diese beynahe königliche Gewalt nur dreyßig Tage lang, und kann erst in fünf Jahren wieder dazu erwählt werden. Die Senatoren, die nicht unter fünf und dreyßig Jahre alt seyn dürfen, sind in drey Klassen abgetheilt. Die erste besteht aus zwölf Demarchen oder Polizeymeistern (welche künftig bloß aus den monatlich abgehenden Epistaten genommen werden sollen) deren jeder in einem der zwölf Quartiere, in welche die Stadt abgetheilt ist, für die Erhaltung guter Zucht und Ordnung und öffentlicher sowohl als häuslicher Sicherheit zu sorgen hat. Sie sind zugleich Schiedsrichter in allen unter den Bürgern verfallenden Streitigkeiten, und berechtigt, wenn kein Vergleich Statt findet, in erster Instanz abzuurtheilen. Auch kommen sie zweymahl in der Woche zusammen, um sich über alles was zur allgemeinen Stadtpolizey gehört, es betreffe nun Abstellung von Mißbräuchen oder Vorschläge zu Verbesserungen, zu berathen. Sie erstatten dem Senat alle Monate Bericht über den Zustand der Stadt, und legen ihm ihre Vorschläge zur Entscheidung vor. Die zweyte Klasse des Senats besteht aus den vier und zwanzig Personen, unter welche die hauptsächlichsten Ämter der Republik vertheilt sind, dem Kanzler und Schatzmeister, und den sämmtlichen Oberaufsehern der öffentlichen Gebäude, Tempel, Gymnasien, Bäder, Brunnen u. s. w. ferner, der Feste und religiösen Feyerlichkeiten, des Kriegsstaats und Seewesens, der Zeughäuser, der öffentlichen Fruchtböden, des Ackerbaues, der Bergwerke u. s. w. Diese erscheinen gewöhnlich nur alsdann im Senat, wenn sie Vorträge zu thun, Verhaltungsbefehle einzuholen, oder Rechenschaft abzulegen haben. Alle übrigen Senatoren machen das Kollegium aus, dem die Verwaltung der bürgerlichen und peinlichen Gerechtigkeit anvertraut ist, und welches wieder in verschiedene Abtheilungen zerfällt. Die Epistaten und Demarchen dienen dem Gemeinwesen umsonst; die zweyte und dritte Klasse sind auf einen anständigen Gehalt gesetzt. Der Staat besoldet seine Diener aus dem Schatz; die Richter hingegen erhalten ihren Ehrensold aus einer öffentlich verwalteten Kasse, in welche alle Geldbußen und die vom Gesetz bestimmten Gerichtsgebühren fließen, welche die unterliegende Partey bezahlen muß, und wovon allein die ärmste Bürgerklasse ausgenommen ist; denn für diese hat unsre Justiz keinen Beutel, aber dafür einen derben Knittel, um die Leute von leichtfertigen Händeln abzuschrecken.

Der Senat versammelt sich gewöhnlich sechsmahl in jedem Monat, und außerdem so oft es der Epistat nöthig findet. Er vereinigt unter den verfassungsmäßigen Einschränkungen alle Gewalten in sich. Alle seine Verordnungen haben, in so fern sie den schon vorhandenen Gesetzen nicht widerstreiten, Gesetzes Kraft; aber diejenigen, die den ganzen Staat betreffen, nur bis zur nächsten Sitzung des großen Rathes, der aus hundert und zwey und neunzig Plebejern besteht, wozu jedes Quartier sechzehn von den Bürgern desselben erwählte Mitglieder hergiebt. Dieser muß alle Monate, am ersten Tage nach dem Neumond, von dem Epistaten zusammen berufen werden, um den Verordnungen des Senats, welche die Kraft eines gemeinnützigen Gesetzes erhalten sollen, die Bestätigung zu geben oder zu versagen. Diese Bestätigung ist nicht länger als auf fünf Jahre kräftig; nach Verfluß derselben wird das Gesetz einer Revision ausgestellt, durch welche es entweder verworfen oder auf dreyßig Jahre festgesetzt wird. Über Krieg und Frieden kann nur der große Rath entscheiden. Neue Auflagen können nur mit seiner Bewilligung Statt finden, auch muß ihm von jedem abgehenden Epistaten Bericht über den Zustand der Republik und alle Jahre von dem Schatzamt Rechnung über die Verwaltung der öffentlichen Einkünfte abgelegt werden.

Auf diese Weise glaubten unsre Nomotheten zugleich sowohl für die Freyheit und Sicherheit, die der Staat seinen Bürgern zu garantieren schuldig ist, als für die Erhaltung der bürgerlichen Ordnung, hinlänglich gesorgt zu haben. Aber sie fanden noch eine Gewalt nöthig, um der großen Macht, die dem aristokratischen Senat anvertraut ist, das Gegengewicht zu halten, und dem demokratischen großen Rath jeden Mißbrauch seiner hemmenden Gewalt unmöglich zu machen. Zu diesem Ende verordneten sie noch ein Kollegium von sechs Eparchen, welche, von allen andern unabhängig, zur einen Hälfte vom großen Rath aus den Eupatriden, und zur andern vom Senat aus dem Volk erwählt werden, und keine andere Verrichtung haben, als die Bewahrer der Gesetze und der Verfassung zu seyn, und zu verhindern, daß weder der Senat und die aus dessen Mittel bestellten Magistratspersonen ihre Gewalt über die Schranken der Gesetze ausdehnen, noch der große Rath dem kleinen seine Beystimmung aus unstatthaften Ursachen versagen könne. In beiderley Fällen haben sie den Räthen und übrigen Staatsbeamten Vorstellungen zu thun, und sind, wofern diese nicht gehört würden, berechtigt, eine von den Prytanen ergangene Verordnung zu suspendieren oder eine vom großen Rath versagte Sankzion durch die ihrige zu ersetzen. Die ihnen verliehene Macht geht so weit, daß sie eine jede Magistratsperson und überhaupt jeden Bürger, der etwas gegen die Republik oder ihre Verfassung unternehmen wollte, in Verhaft zu nehmen, und einem besondern Gerichte, das aus den zwölf Demarchen, zwölf durchs Loos erwählten Prytanen, und fünf und zwanzig Plebejern, unter dem Vorsitz des ältesten Eparchen, zusammen gesetzt ist, zur Untersuchung und Bestrafung zu übergeben berechtigt sind. Diese Staatsaufseher bleiben nur ein Jahr im Amte, haben den Vorsitz über alle andern obrigkeitlichen Personen, unmittelbar nach dem Epistaten, und werden vom Volk als eben so viele für seine Rechte und für die öffentliche Wohlfahrt wachende Schutzgeister angesehen; sind aber nach ihrem Austritt einer so strengen Verantwortlichkeit unterworfen, daß auf jede Versäumniß ihrer Pflicht die Strafe einer zehenjährigen Landesverweisung steht.

Ich füge diesem kurzen Abriß unsrer neuen Verfassung nur noch dieses hinzu, daß, weil die Cyrenische Priesterschaft sich bey der letzten Revoluzion durch eine besonders eifrige Vorliebe für die Tyrannie hervorgethan, die Einrichtung getroffen worden ist, daß die jedesmahligen Demarchen zugleich die Oberpriester in ihrem Quartier, und der Epistat als das Oberhaupt des Staats zugleich der Hohepriester desselben ist.

Wie gefällt dir nun unsre Republik in dieser neuen Gestalt, edler Learch? Sie ist mit obrigkeitlichen Personen nicht so überladen wie Athen, und hat, wenn ich ihr nicht zu viel schmeichle, so ziemlich die Miene, ihre zwanzig Jahre so gut wie irgend eine andere auszudauern. Oder meinst du nicht? – Ernsthaft zu reden, es wäre unartig von mir, wenn ich unsern Prometheen die Freude, eine so zierlich gearbeitete Konstituzion zu Stande gebracht zu haben, und meinen Mitbürgern ihr Vergnügen an derselben durch Mittheilung meiner Gedanken verkümmern wollte. Aber bey dir darf ich die Weissagung wohl in Geheim hinterlegen, daß unsre Staatsmaschine, wie richtig sie auch einige Jahre spielen mag, noch ehe dreyßig Jahre in die Welt gekommen sind, wieder ins Stocken gerathen und den Söhnen ihrer Verfertiger wenigstens eben so viel zu schaffen machen werde, als die vorige den Vätern. Alle bürgerliche Gesellschaften haben den unheilbaren Radikalfehler, daß sie, weil sie sich nicht selbst regieren können, von Menschen regiert werden müssen, die – es größtentheils eben so wenig können. Man kann unsre Regierer nicht oft genug daran erinnern, daß bürgerliche Gesetze nur ein sehr unvollkommnes und unzulängliches Surrogat für den Mangel guter Sitten, und jede Regierung, ihre Form sey noch so künstlich ausgesonnen, nur eine schwache Stellvertreterin der Vernunft ist, die in jedem Menschen regieren sollte. Was hieraus unmittelbar folgt, ist, denke ich: man könne nicht ernstlich genug daran arbeiten, die Menschen vernünftig und sittig zu machen. Aber, wie die Machthaber hiervon zu überzeugen, oder vielmehr dahin zu bringen wären, die Wege, die zu diesem Ziele führen, ernstlich einzuschlagen? – Dieß ist noch immer das große unaufgelöste Problem! Wie kann man ihnen zumuthen, daß sie mit Ernst und Eifer daran arbeiten sollen, sich selbst überflüssig zu machen?

Ende des ersten Buchs.


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