Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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IV.
An Ebendenselben.

Über Platons Dialog von der Republik.

In Lagen, wo das Gefühl mit der Vernunft ins Gedränge kommt, ist uns alles willkommen, was uns in einen andern Zusammenhang von Vorstellungen versetzt, die entweder durch Neuheit, Schönheit und Wichtigkeit anziehen, oder durch einen Anstrich von sinnreichem Unsinn und Räthselhaftigkeit zum Nachdenken reitzen, und sich unvermerkt unsrer ganzen Aufmerksamkeit bemächtigen. In dieser Rücksicht, lieber Eurybates, hätte mir der neue Platonische Dialog, womit du mich beschenkt hast, zu keiner gelegenem Zeit kommen können. Ich habe ihn, unter häufig abwechselnden Übergängen von Beyfall, Interesse, Bewunderung und Vergnügen – zu Mißbilligung, Kopfschütteln, Langeweile und Ungeduld, bereits zum zweyten Mahle durchgelesen; was wenigstens so viel beweiset, daß, meinem Gefühle nach, das Lobenswürdige in diesem seltsamen Werke mit dem Tadelhaften um das Übergewicht kämpfe, und es daher keine leichte Sache sey, über den innern Werth oder Unwerth desselben ein unbefangenes Urtheil auszusprechen. Wirklich scheint mir Plato alle Kräfte seines Geistes und den ganzen Reichthum seiner Fantasie, seines Witzes und seiner Beredsamkeit aufgeboten zu haben, um das Vollkommenste, was er vermag, hervor zu bringen; und ich müßte mich sehr irren, oder es ist ihm gelungen, nicht nur alle seine Vorgänger und Mitbewerber, so viele ich deren kenne, sondern, in gewissem Sinne, auch sich selber zu übertreffen. Denn unstreitig muß sogar sein Fädon, Fädrus, und das allgemein bewunderte Symposion selbst, vor diesem neuen Prachtwerke zurück weichen. Da man über diesen Punkt (wie mir Lysanias sagt) zu Athen nur Eine Stimme hört, und die Meinige zu unbedeutend ist, um das allgemeine Koax Koax der Aristofanischen Frösche merklich zu verstärken, so wäre wohl das Bescheidenste, und auf alle Fälle das Klügste, was ich thun könnte, wenn ich es bey dem bisher gesagten bewenden ließe. Aber du verlangst meine Meinung von dieser neuen Dichtung unsers erklärten Dichterfeindes ausführlich zu lesen, und hast mich gewisser Maßen in die Nothwendigkeit gesetzt dir zu Willen zu seyn, da ich nicht umhin kann, ihn gegen einen Vorwurf zu vertheidigen, den du ihm machst, und der, neben so vielen andern, die er nur zu sehr verdient, mit deiner Erlaubniß, gerade der Einzige ist, von welchem ich ihn frey gesprochen wissen möchte. Bey so bewandten Dingen will ich denn (nach andächtiger Anrufung aller Musen und Grazien die Freyheiten, die ich mir mit ihrem Günstling nehmen werde, nicht in Ungnaden zu vermerken) mich dem Wagestück unterziehen, und dir meine Gedanken sowohl von Platons Republik als von diesem Dialog überhaupt ungescheut eröffnen; ohne mich jedoch zu einer vollständigen Beurtheilung anheischig zu machen, welche leicht zu einem zweymahl so dicken Buch als das beurtheilte Werk selbst, erwachsen könnte.

Vor allem laß uns bey der Form dieses Dialogs, als dem ersten was daran in die Augen fällt, eine Weile stehen bleiben.

Ich setze als etwas Ausgemachtes voraus, was wenigstens Plato selbst willig zugeben wird: daß ein Dialog in Rücksicht auf Erfindung, Anordnung, Nachahmung der Natur u. s. f. in seiner Art eben so gut ein dichterisches Kunstwerk ist und seyn soll, als eine Tragödie oder Komödie; und ist er dieß, so muß er allen Gesetzen, die ihren Grund in der Natur eines aus vielen Theilen zusammen gesetzten Ganzen haben, und überhaupt den Regeln des Wahrscheinlichen und Schicklichen in Ansehung der Personen sowohl als der Zeit, des Ortes und anderer Umstände, eben so wohl unterworfen seyn als diese. Laß uns sehen, wie der Werkmeister dieses Dialogs gegen die verschiedenen Klagepunkte bestehen wird, die ich ihm zum Theil von etlichen strengen Kunstrichtern aus meiner Bekanntschaft machen höre, zum Theil (ohne selbst ein sehr strenger Kunstrichter zu seyn) meinem eigenen Gefühle nach, zu machen habe.

Ich übergehe den allgemeinen Vorwurf, der beynahe alle seine Dialogen, aber den gegenwärtigen noch viel stärker als die meisten andern, trifft: daß er dem guten Sokrates unaufhörlich seine eigenen Eyer auszubrüten giebt, und ihm ein System von Filosofie oder Mystosofie unterschiebt, womit der schlichte Verstand des Sohns des Sofroniskus wenig oder nichts gemein hatte; kurz, daß er ihn nicht nur zu einem ganz andern Mann, sondern in gewissen Stücken sogar zum Gegentheil dessen macht was er war. Wir wissen was er hierüber zu seiner Rechtfertigung zu sagen pflegt, und lassen es dabey bewenden. Aber auf die sehr natürliche Frage: »Woher uns dieser Dialog komme?« sollte er doch die Antwort nicht schuldig bleiben. Das Ganze ist die Erzählung eines im Peiräon am Feste der Thrazischen Göttin Bendis im Hause des reichen alten Cefalus vorgefallenen filosofischen Gesprächs zwischen Sokrates, Glaukon und Adimanthus; denn die übrigen im Eingang vorkommenden Personen nehmen an dem Hauptgespräche bloß mit den Ohren Antheil. Diese Erzählung legt Plato dem Sokrates selbst in den Mund; aber an wen die Erzählung gerichtet sey, und aus welcher Veranlassung? Wo und wann sie vorgefallen? davon sagt er uns kein Wort. Was müssen wir also anders glauben, als Sokrates habe dieses Gespräch allen, die es zu lesen Lust haben, schriftlich erzählt, d. i. er habe ein Buch daraus gemacht? Wir wissen aber daß Sokrates in seinem ganzen Leben nichts geschrieben hat, das einem Buche gleich sieht. Plato verstößt also gegen alle Wahrscheinlichkeit, da er ihn auf einmahl zum Urheber eines Buches macht, das kaum um den sechsten Theil kleiner ist als die ganze Ilias.

Doch wir wollen ihm die Freyheit zugestehen, die man einem Dichter von Profession nicht versagen würde, den Sokrates zum Schriftsteller zu machen, was dieser wenigstens hätte seyn können, wenn er gewollt hätte: aber wie kann er verlangen, wir sollen es für möglich halten, daß ein Gespräch, welches von einem nicht langsamen Leser in sechzehn vollen Stunden schwerlich mit einigem Bedacht gelesen werden kann, an Einem Tage gehalten worden sey, wenn gleich (was doch keineswegs der Fall war) sein redseliger Sokrates von Sonnenaufgang bis in die sinkende Nacht in Einem fort gesprochen hätte? Adimanth und Glaukon, welche bey weitem in dem größten Theile des Gesprächs bloße Wiederhaller sind, brauchten sich zwar auf ihre ewigen, »ja freylich, allerdings, nicht anders, warum nicht? so scheints, ich sollte meinen,« und wie die kopfnickenden Formeln alle lauten, eben nicht lange zu bedenken; aber man muß doch wenigstens Athem hohlen, und da in diesen vollen sechzehn Stunden, die das Gespräch dauert, weder gegessen noch getrunken wurde, so kann man ohne Übertreibung annehmen, der gute Sokrates müßte sich, trotz seiner kräftigen Leibesbeschaffenheit, dennoch zuletzt so ausgetrocknet und verlechzt gefühlt haben, daß es ihm unmöglich gewesen wäre, das wundervolle Ammenmährchen von dem Armenier Er, womit Plato seinem Werke die Krone aufsetzt, in hörbaren Lauten hervor zu bringen.

Laß uns indessen aus Gefälligkeit gegen den filosofischen Dichter über alle diese Unwahrscheinlichkeiten hinausgehen: aber wer kann uns zumuthen, (höre ich einige meiner kunstliebenden Freunde sagen) daß wir die Urbanität so weit treiben, die Augen mit Gewalt vor einem andern Fehler zuzuschließen, der ganz allein hinreichend ist, jedes Kunstwerk, wie schön auch dieser oder jener einzelne Theil desselben seyn möchte, in so fern es ein Ganzes seyn soll, verwerflich zu machen? Was würden wir von einem Baumeister sagen, der sich um die Richtigkeit und Schönheit der Verhältnisse der Seiten, Hallen, Sähle, Kammern, Thüren und andrer einzelner Theile seines Gebäudes so wenig bekümmerte, daß er ohne Bedenken die rechte Seite kürzer als die linke, oder das Vorhaus größer machte als das Wohnhaus; einem hohen geräumigen Speisezimmer kleine Fenster und ungleiche Thüren gäbe, und den Gesellschaftssahl neben die Küche setzte? Oder wie würden wir den Mahler loben, der, wenn er z. B. den Kampf des Herkules mit dem Achelous zum Hauptgegenstand eines Gemähldes genommen hätte, uns auf derselben Tafel die schöne Deianira unter einem Gewimmel von Mägden mit Trocknen ihrer Wäsche beschäftigt zeigte, und, zu mehrerer Unterhaltung der Liebhaber, auf beiden Seiten noch eine Äsopische Fabel, eine Gluckhenne mit ihren Küchlein neben einem sich stolz in der Sonne spiegelnden Pfauhahn anbringen, und das alles so genau und zierlich auspinseln wollte, daß der Zuschauer, zweifelhaft ob der Fuchs und der Rabe, oder Deianira mit ihren Mägden, oder Herkules und Achelous, oder die Gluckhenne und der Pfau die Hauptfiguren des Stücks vorstellen sollten, über dem Betrachten der Nebendinge den eigentlichen Gegenstand immer aus den Augen verlöre? Wiewohl dieser Tadel sich auf eine, meiner Meinung nach, etwas schiefe Ansicht des Dialogs, als Kunstwerk betrachtet, gründet, und daher um vieles übertrieben ist, wie ich in der Folge zu zeigen Gelegenheit finden werde: so muß ich doch gestehen, daß das vor uns liegende Werk von einem auffallenden Mißverhältniß der Theile zum Ganzen, und von Überladung mit Nebensachen, welche die Aufmerksamkeit von der Hauptsache abziehen und nöthigern Untersuchungen den Weg versperren, nicht ganz frey gesprochen werden könne. Das Problem, warum es dem angeblichen Sokrates eigentlich zu thun ist, nehmlich den wahren Begriff eines gerechten Mannes durch das Ideal eines vollkommenen Staats zu finden, macht kaum den vierten Theil des Ganzen aus; und ob ich schon nicht in Abrede bin, daß der Verfasser die häufigen Abschweifungen und Episoden mit der Hauptsache in Verbindung zu setzen gesucht hat, so ist doch unläugbar, daß einige derselben wahre Auswüchse und üppige Wasserschößlinge sind, andere hingegen ohne alle Noth so ausführlich behandelt werden, daß der Verfasser selbst das Hauptwerk darüber gänzlich zu vergessen scheint.

Indessen werden alle diese Fehler in meinen Augen zu Kleinigkeiten, so bald gefragt wird: wie dieses Platonische Machwerk in Ansehung dessen, worin die wesentlichste Schönheit eines Dialogs besteht, beschaffen sey? – Vorausgesetzt, daß die Rede nicht von Unterweisung eines Knäbleins durch Frage und Antwort, sondern von einem Gespräch unter Männern, über irgend einen wichtigen, noch nicht hinlänglich aufgeklärten, oder verschiedene Ansichten und Auflösungen zulassenden Gegenstand ist, so läßt sich doch wohl als etwas Ausgemachtes annehmen, ein erdichteter Dialog sey desto vollkommener, je mehr er einem unter geistreichen und gebildeten Personen wirklich vorgefallenen Gespräch ähnlich sieht. In einer solchen gesellschaftlichen Unterhaltung stellt jeder seinen Mann; jeder hat seinen eigenen Kopf mitgebracht, hat seine Meinung, und weiß sie, wenn sie angefochten wird, mit starken oder schwachen, aber doch wenigstens mit scheinbaren, Gründen zu unterstützen. Wird gestritten, so wehrt sich jeder seiner Haut so gut er kann; oder sucht man einen Punkt, welcher Allen noch dunkel ist, ruhig und gemeinschaftlich aufzuhellen, so trägt jeder nach Vermögen dazu bey. Glaubt Einer die Wahrheit, welche gesucht wird, gefunden zu haben, so hört er die Zweifel, die ihm dagegen gemacht werden, gelassen an, und die daraus entstehende Erörterung dient entweder die gefundene Wahrheit zu bestätigen und anerkennen zu machen, oder den vermeinten Finder zu überführen, daß er sich geirret habe; und wäre auch Einer in der Gesellschaft allen übrigen an Scharfsinn und Sachkenntniß merklich überlegen, so ist dieser so weit entfernt sich dessen zu überheben, das Wort allein führen zu wollen, und den andern nichts übrig zu lassen als immer Ja zu sagen, daß er ihnen sogar, falls sie ihre Zweifel und Einwürfe nicht in ihrer ganzen Stärke vorzutragen wissen, mit guter Art zu Hülfe kommt, ihre Partey gegen sich selbst nimmt, und nicht eher Recht behalten will, bis alle Waffen, womit seine Meinung bestritten werden kann, stumpf oder zerbrochen sind. Unterhaltungen dieser Art sind es, die der Dialogendichter zu Mustern nehmen muß; aber auch dadurch hat er den Forderungen der Kunst noch kein Genüge gethan. Denn da er, als Künstler, sich nicht auf das Gemeine und Alltägliche beschränken, sondern das Schönste und Vollkommenste in jeder Art, oder genauer zu reden, ein in seinem Geiste sich erzeugendes Bild desselben, zum Vorbilde seines Werkes nehmen und dieses eben dadurch zum wahren Kunstwerk erheben soll: so kann mit dem größten Rechte von ihm erwartet werden, daß die gelungene Bestrebung, dem Ideal eines vollkommenen Dialogs so nahe als möglich zu kommen, in seinem ganzen Werke sichtbar sey. Ich darf nicht besorgen einer Ungerechtigkeit gegen unsern Dialogendichter beschuldiget zu werden, wenn ich sage, daß er bey der Ausarbeitung des Gespräches, wovon wir reden, eher an alles andere als an diese Pflicht gedacht habe; denn statt eines Gemähldes, worin Sokrates als die Hauptfigur in einer Gesellschaft, in welcher es ehrenvoll ist der Erste zu seyn, erschiene, glauben wir den Homerischen Tiresias unter den Todten zu sehen.

»Er allein hat Verstand, die andern sind flatternde Schatten.«

In der That sind von der letzten Hälfte des zweyten Buchs an alle übrigen eine Art von stummen Personen; selbst Glaukon und Adimanth, an welche Sokrates seine Fragen richtet, haben größten Theils wenig mehr zu sagen, als was sie, ohne den Mund zu öffnen, durch bloßes Kopfnicken, oder ohne sichtbar zu seyn, wie die körperlose Nymfe Echo, durch bloßes Wiederhallen hätten verrichten können; und so ist nicht zu läugnen, daß dieser so genannte Dialog eben so gut und mit noch besseren Recht ein sokratischen Monolog heißen könnte.


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