Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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I.
Aristipp an Eurybates.

Ich habe mich gewöhnt mir einzubilden daß es meinen Freunden sehr wohl ergehe, wenn sie mich lange nichts von sich hören lassen, und es wäre mir lieb wenn sie sich eben dasselbe von mir vorstellen wollten. In der That hat die Zeit für niemand schnellere Flügel als für die Glücklichen; und wenn man auch vielbeschäftigte Personen sagen hört, daß ihnen Tage zu Stunden werden, so geschieht dieß doch meistens nur, wenn sie sich aus eigener Wahl und mit Dingen, die ihnen in einem hohen Grade wichtig oder angenehm sind, beschäftigen; denn bey Arbeiten dieser Art fühlt man sich nicht minder glücklich, ja vielmehr noch glücklicher als im Genuß eines nicht mit Arbeit erkauften Vergnügens. Bey allem dem gestehe ich, lieber Eurybates, wir haben uns beynahe zu viel darauf verlassen, daß wir einander nicht unentbehrlich sind, und wenn wir es noch lange so forttrieben, könnt' es, wiewohl gegen unsre Meinung, doch so weit mit uns kommen, daß wir einander vor lauter Wohlbefinden endlich ganz vergäßen. Denke indessen nicht, daß ich mir ein Verdienst daraus machen wolle, dir in Erneuerung unsers Briefwechsels zuvor gekommen zu seyn. Du weißt es ist meine Sache nicht, meinen Handlungen einen gleißenden Anstrich zu geben, und für weiser oder uneigennütziger angesehen seyn zu wollen, als wir andern anspruchslosen Leute gewöhnlich zu seyn pflegen. Kurz, ich habe zwey sehr eigennützige Ursachen dir zu schreiben: die erste, daß mir das Verlangen nach zuverlässigen Nachrichten von dir selbst und allem was zu dir gehört, und von der schönen Athenä überhaupt durch so lange Nichtbefriedigung peinlich zu werden anfängt; die andere, daß ich vielleicht durch dich aus meiner Ungewißheit über das Schicksal unsrer Freundin Lais gezogen zu werden hoffe. Zwey Jahre sind bereits vorüber, seitdem Sie, im Begriff Korinth und das südliche Griechenland auf immer zu verlassen, mit den ahnungsschweren Worten von mir und Kleonidas Abschied nahm: »wenn ich an den Ufern des Peneus die Ruhe wieder finde, werdet Ihr mehr von mir hören: wo nicht, so laßt mich in euerm Andenken leben und seyd glücklich.« – Sie hat in dieser langen Zeit nichts von sich hören lassen, und ich kann mich nicht erwehren ihrentwegen in Sorgen zu seyn; denn wofern es ihr nicht ginge wie wir wünschen, so bin ich nur allzu gewiß, daß sie zu stolz ist Hülfe von ihren Freunden anzunehmen, geschweige bey ihnen zu suchen.

Wir genügsamen Cyrener befinden uns bey unsrer goldnen Mittelmäßigkeit so wohl, daß wir uns wenig um die besondern Umstände der ewigen Zwistigkeiten und Fehden bekümmern, welche Eifersucht, Ehrgeitz und Begierde immer mehr zu haben zwischen Athen und Sparta, und überhaupt zwischen dem Dorischen und Ionischen Stamm der Hellenen niemahls ausgehen lassen werden. Alles was ich seit einiger Zeit von dem Übermuth, womit die Spartaner sich der ihnen aufgetragenen Vollziehung des Friedens des Antalcidas überheben, vernommen habe, läßt mich einen nahe bevorstehenden neuen Ausbruch des allgemeinen Mißvergnügens der Städte vom zweyten und dritten Rang vermuthen, wovon die Athener ohne Zweifel Gelegenheit nehmen werden, sich der Herrschaft des Meers wieder zu bemächtigen, auf deren langen Besitz sie ein vermeintes Zwangsrecht gründen, welches ihnen von den übrigen Seestädten freywillig niemahls zugestanden werden wird.

Inzwischen erheben sich im nördlichen Griechenlande, wie uns neuerlich ein reisender Byzantiner berichtet, zwey neue Mächte; eine seit ungefähr vierzig Jahren unvermerkt heran gewachsene Republik, und ein vor kurzem noch unbedeutender Fürst; welche, wenn man ihren raschen Fortschritten noch einige Zeit so gleichgültig wie bisher zusehen würde, beide der bisherigen Verfassung der Hellenen eine große Veränderung drohen. Du siehest daß ich von Olynthus in der Chalcidice und von dem Thessalischen Fürsten Jason rede, der, nach allem was der Byzantiner von ihm erzählt, den Unternehmungsgeist seines alten Nahmensverwandten in der Heldenzeit mit der Tapferkeit Achills und der Besonnenheit des erfindungsreichen Ulysses verbindet, und kein Geheimniß mehr daraus macht, daß er nichts geringeres vorhabe, als das alte Mutterland der Hellenen wieder in sein schon so lange her verscherztes vormahliges Ansehen zu setzen, und die Macht des gesammten Griechenlands darin zusammen zu drängen, um sodann, an der Spitze aller Abkömmlinge Deukalions, das Griechische Asien auf immer vom Joche der Perser zu befreyen. Meiner Meinung nach könnte euern übelberathenen, die wahre Freyheit und ihr wahres Interesse ewig verkennenden Freystaaten nichts glücklicheres begegnen, als wenn es diesem edeln Thessalier gelänge seinen großen Gedanken auszuführen.

Ärgre dich nicht, lieber Eurybates, mich so filotyrannisch reden zu hören; meine Vorliebe zur Monarchie dauert gewöhnlich nur so lange, als ich in einem demokratischen oder oligarchischen Staat lebe, und ich bin der Freyheit nie wärmer zugethan, als da wo ein Einziger alle Gewalt in Händen hat. Ein weiser und edel gesinnter Monarch weiß jedoch beides sehr gut mit einander zu vereinigen; nur Schade, daß die weisen und guten Monarchen ein eben so seltnes Geschenk des Zufalls sind als die weisen und guten Demagogen. Ist es nicht ein niederschlagender Gedanke, daß noch kein Volk auf dem Erdboden Verstand genug gehabt hat, das, was bisher bloß Sache des Zufalls war, zu einem Werke seiner Verfassung und seiner Gesetze zu machen? Und wo ist das Volk, von welchem ein solches Kunstwerk (vielleicht das größte, dessen der menschliche Verstand fähig ist) zu erwarten wäre, da das sinnreichste und gebildetste von allen, die Griechen, in so vielen Jahrhunderten noch nicht so weit gekommen ist, sich den Unterschied zwischen Regierung und Herrschaft deutlich zu machen, und einzusehen, daß wohl regieren eine Kunst, und in der Ausübung zwar eine der schwersten, aber doch, so gut wie jede andre, zu erlernen und auf feste Grundsätze zurück zu führen ist? Das schlimmste ist nur, daß die Kunst wohl zu regieren, wenn sie auch gefunden wäre, ohne die Kunst zu gehorchen wenig helfen könnte; oder mit andern Worten: daß das Volk zum Gehorchen eben so wohl erzogen und gebildet werden müßte, als seine Obern zum Regieren. Der Gesetzgeber der Lacedämonier ist meines Wissens der einzige, der dieß eingesehen hat; und daß die Verfassung, die er ihnen gab, der Natur zum Trotz länger als irgend eine andere gedauert hat, ist, denke ich, hauptsächlich der sonderbaren Erziehung beyzumessen, an welche alle Bürger von Sparta durch seine Gesetze gebunden sind.

Ich für meine Person werde immer und überall frey gestehen, daß mir die Wörter Herr und Herrschaft eben so herzlich zuwider sind als Knecht und Knechtschaft; ich will regiert seyn, nicht beherrscht, wenn ich aber doch ja einen Herrn über mich dulden muß, so sey es ein einziger Agamemnon, nicht alle Heerführer – und am allerwenigsten das ganze Heer der Achaier. Da jedoch die Wahl nicht immer in meiner Willkühr steht, so werde ich mich, im Nothfall wenigstens bis uns Plato mit seiner Republik beschenken wird, mit meiner Filosofie zu behelfen wissen, die mich allenthalben unter leidlichen Umständen so glücklich zu seyn lehrt als ich billiger Weise verlangen kann; und leidlich sollte sie mir sogar den Schnappsack und Stecken unsers Freundes Diogenes machen, wenn der einzige Herr, den ich gutwillig über mich erkenne, die allmächtige Göttin Anangke jemahls Belieben tragen sollte, mich auf so wenig Eigenthum herabzusetzen; ein Fall, wovor der große König zu Persepolis am Ende nicht sicherer ist als ich.


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