Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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VIII.
Hippias an Aristipp.

Man ist es an den Athenern zu sehr gewohnt, daß sie ihren größten und verdientesten Männern am übelsten mitspielen, als daß die gerichtliche Mordung des alten Sokrates sonderliches Aufsehen in Griechenland gemacht haben sollte. Hätte sich Anaxagoras und noch vor kurzem Diagoras der Melier, der ein eben so wackerer Mann, und ein noch besserer Kopf als der Sohn des Sofroniskus war, nicht bey Zeiten aus dem Staube gemacht, so würde dieser die Ehre nicht erhalten haben, der erste zu seyn, den sie (sagt man) aus der Welt schafften weil er zu weise für sie war.

Unter uns, Aristipp, ich glaube man sagt den Athenern und der Weisheit mehr Böses nach als sie verdienen. Der gute Sokrates hätte mit aller seiner Weisheit, die am Ende den Athenern weder warm noch kalt gab, ihrentwegen noch lange leben können, wenn er durch seine Ironie, und den Faunischen Muthwillen, alle Leute die sich mit ihm einließen zu necken und in die Enge zu treiben, und durch das ewige Einmischen in fremde Angelegenheiten und alles besser Wissen als andere, sich nicht schon seit langer Zeit verhaßt, und durch seinen anscheinenden Müßiggang und seine armselige Lebensart noch oben drein verächtlich gemacht hätte. Nach Solons Gesetzen soll jeder Bürger der dritten Klasse entweder irgend eine nützliche und ehrliche Profession treiben, oder der Republik unmittelbare Dienste thun. Sokrates that, ihrer Meinung nach, weder dieses noch jenes: denn daß er tagtäglich an allen öffentlichen Orten zu sehen und zu hören war, und von einer Bude und Werkstatt zur andern ging, um die Leute mit seinen Fragen und Subtilitäten (wie sie es nannten) zu beunruhigen, wurde ihm natürlicher Weise von dem gemeinen Mann, und selbst von den meisten aus den höhern Klassen, für keine Beschäftigung und zu keinem Verdienst angerechnet, wie gut er selbst es auch damit meinen mochte.

Wenn wir niemand Unrecht thun wollen, Aristipp, müssen wir billig seyn. Um die Schuld der Athener in diesem fatalen Handel richtig abwägen zu können, müßten wir untersucht haben, ob sie in ihrer Lage und vermöge ihrer gewohnten Vorstellungsart anders von ihm denken konnten; und wer dieß untersuchen wollte, müßte sich völlig an ihren Platz stellen können.

Hier in Syrakus hört man die verschiedensten Urtheile über diese Tragödie, die, so lange sie die Neuigkeit des Tages war, auch das Einzige war wovon überall gesprochen wurde. Die meisten hatten viel an dem Benehmen des Helden auszusetzen, besonders wurde der spottende und trotzende Ton womit er sich gegen seine Richter vertheidigte, oder vielmehr nicht vertheidigen wollte, fast allgemein getadelt. Doch fanden sich auch einige, denen dieser Ton der einzige schien, der sich für ihn schickte, wiewohl er leicht voraussehen konnte, was er ihm kosten werde. Aber in Einem Punkt stimmt ganz Syrakus überein, darin nehmlich, daß er unrecht gethan habe, den Beystand zur Flucht, den ihm sein Freund Kriton anbot und beynahe aufdrang, so eigensinnig auszuschlagen. Wenn er auch (sagt man) auf sich selbst und seine Freunde und Weib und Kinder keine Rücksicht nehmen wollte, so war es Pflicht eines guten Bürgers, den Athenern die Nachreue über ein ungerechtes Urtheil und den Tadel aller übrigen Griechen zu ersparen. Vornehmlich wurde der Grund seiner Weigerung ganz unhaltbar gefunden. »Ich bin, sagte er, den Gesetzen der Republik Gehorsam schuldig; meine gesetzmäßigen Richter haben mich nach dem Gesetz zum Tode verurtheilt; also bin ich schuldig das Urtheil an mir vollziehen zu lassen.« – Gleichwohl (wenden die anders Denkenden ein) war er selbst überzeugt, daß er unschuldig verurtheilt worden sey. Hatte dieß seine Richtigkeit, so war er nicht nach dem Gesetz verurtheilt; denn das Gesetz verdammt keinen Unschuldigen. – »Aber, sagte Sokrates, ich bin nicht zum Richter über meine Richter gesetzt; ich kann mich also ihrem Urtheil deswegen, weil es ungerecht ist, nicht entziehen; denn dadurch würde ich mich eigenmächtig zu ihrem Richter setzen.« – Ich habe diesen Einwurf in seinem Nahmen öfters geltend gemacht, und es ist mir von niemand eine Antwort geworden, die ihn wirklich entkräftet hätte; auch gestehe ich, daß ich ihn, in der bürgerlichen Ordnung der Dinge, für unwiderleglich halte. Woher kam es also, daß jedermann, wenn er nicht weiter konnte, sich auf sein innerstes Gefühl berief, welches sich diesem Argument unabtreiblich entgegen stemme? Wie kann die Vernunft mit unserm innern Gefühl dessen was recht ist in Widerspruch stehen? – Höre, wie ich mir dieses Problem auflöse, und sage mir deine Meinung davon. Das Gefühl, worauf sich meine Antisokratiker beriefen, ist nichts anders als eine dunkle Vorstellung des Widerspruchs, der zwischen dem nothwendigen Gesetz der Natur und den verabredeten Gesetzen der bürgerlichen Gesellschaft vorwaltet. Die Natur hat uns die Selbsterhaltung zur ersten aller Pflichten gemacht. Alle andern stehen unter dieser, und müssen ihr im Fall eines Zusammenstoßes weichen; denn um irgend eine Pflicht erfüllen zu können, muß ich da seyn. Da also dieses Naturgesetz allen bürgerlichen vorgeht, so konnte Sokrates den Satz, daß er sich keines Richteramtes über seine Richter anmaßen dürfe, nicht gegen die Pflicht der Selbsterhaltung geltend machen. Du wirst mir vielleicht einwenden: »wenn dieser Schluß gelte, so sey auch ein rechtmäßig Verurtheilter befugt, sich der verdienten Strafe zu entziehen, wenn er könne« – und ich habe keine andere Antwort hierauf als Ja!

Auch Dionysius scheint, Trotz seinem Tyrannenthum, der Meinung zu seyn, daß Sokrates sich hätte retten sollen, da er es mit Sicherheit konnte. Als neulich in seiner Gegenwart von dieser Geschichte gesprochen wurde, sagte er: Ich bedaure den alten Mann; er sollte willkommen gewesen seyn, wenn er sich zu mir hätte flüchten wollen; weder seine Filosofie noch sein Dämonion sollte ihm die mindeste Anfechtung in Sicilien zugezogen haben. – Doch genug von einer Sache, die nun nicht mehr zu ändern ist.

Wenn euch Kleombrotus lieb ist, so verliert ihn ja nicht aus den Augen. Einem Schwärmer von dieser Stärke oder Schwäche (wie mans nehmen will) ist nicht über die Gasse zu trauen. Sein vertrauter Umgang mit dem jungen Plato hat ihm unwiederbringlichen Schaden gethan. Es ist mit schwachen Köpfen, die sich an solche meteorische Menschen hängen, wie mit Leuten von mittelmäßigem Vermögen, die in vertrauter Gesellschaft mit reichen Prassern leben und es ihnen gleich thun wollen; sie gehen bey Zeiten zu Grunde, wiewohl sie keinen größern Aufwand machen als den diese sehr wohl aushalten können. Plato ist ein weit größerer Schwärmer als Kleombrot; aber er ist ihm auch eben so sehr an Geisteskraft überlegen. Plato wird von seiner Schwärmerey, wie ein guter Reiter von seinem Pferd, immer Meister bleiben, oder doch nur selten und ohne Schaden abgeworfen werden; mit dem armen Faethon Kleombrot gehen die Sonnenpferde durch, und ich besorge es wird kein gutes Ende mit ihm nehmen. Ich habe nicht gern mit solchen Menschen zu schaffen; dieß war die Ursache, warum ich mich deinem Gedanken, ihn mit uns nach Syrakus zu nehmen, so ernstlich widersetzte.

Kleonidas könnte mir auch bloß als dein Freund nicht gleichgültig seyn; um so mehr danke ich dir für seine Bekanntschaft, da ich mir viel Vergnügen von ihr verspreche. Der Zufall, daß seine aus der bloßen Fantasie gemahlte Hebe der jungen Musarion so ähnlich sah, ist in der That (vorausgesetzt die Ähnlichkeit sey wirklich so groß als du sagst) ein artiger – Zufall, und weiter nichts. Denkst du dir etwas bey den Worten ... sympathetische Ahnung? Ich kann mir nichts dabey denken. Ich weiß von keiner andern Sympathie, als von Übereinstimmung der Gemüther aus Ähnlichkeit der Gefühle und Neigungen. Was hat aber diese mit Ahnungen zu thun? Wie käme der Mensch zu Ahnungen? Welches unsrer Organe sollte das Vehikel derselben seyn? Wenn ich Ahnungen zugeben müßte, so sehe ich nicht, warum ich nicht aus gleichem Grunde alles Wunderbare und Unglaubliche für möglich halten müßte, was unsre Mythologen aus Ägyptischen, Arabischen und Syrischen Sagen und Volksmährchen in unsre Götter- und Heldengeschichte übergetragen haben. Alle diese Fantasmen gehören ins Gebiet der Dichter, und können unter ihren Händen zur Unterhaltung des großen Haufens, und, mit Geist und Geschmack behandelt, sogar zum Vergnügen der Verständigen dienen; aber in die Reihe der Ursachen, woraus die wirklichen Dinge erklärbar sind, sollen sie sich nicht stellen.

Dionysius, nach welchem du dich erkundigest, ist noch immer mit den gewaltigen Zurüstungen beschäftiget, deren Anfang du gesehen hast. Syrakus sieht wie ein einziger ungeheurer Werkplatz aus, wo sich alle wiederaufgestandene Kureten, Cyklopen, Chalyben und Telchinen der Vorwelt das Wort gegeben hätten, mit allen Künstlern und Werkmeistern der jetzigen Zeit zusammen zu kommen, um alles Metall im Schoß der Erde und alles Holz auf ihren Bergrücken zu einer Unternehmung, wie die Welt noch keine gesehen hat, zu verarbeiten. Man muß gestehen, daß Dionysius alle mögliche Maßregeln nimmt um seiner Sache gewiß zu seyn, und daß die Kunst, große Dinge mit kleinen Mitteln zu thun, keinen Reitz für seinen Ehrgeitz zu haben scheint. Es ist nun kein Geheimniß mehr, daß alle diese Kriegszurüstungen den Karthagern gelten, und die Feindseligkeiten sind im Begriff auszubrechen.

Je näher ich die Syrakusaner kennen lerne, je mehr überzeuge ich mich, daß die Athener (mit Erlaubniß der schönen Lais zu sagen) ein gutartiges, lenksames und verständiges Volk in Vergleichung mit ihnen sind. Es ist leicht vorher zu sehen, daß die Harmonie, die seit einiger Zeit zwischen ihnen und dem Dionysius zu bestehen scheint, von keiner langen Dauer seyn wird. Die Eupatriden von Syrakus können und werden sich nie mit ihm aussöhnen, und lauern Tag und Nacht, mit einer Unruhe und Ungeduld die er nur zu sehr gewahr wird, auf Gelegenheit, ihn entweder, wenn es mit Vortheil geschehen kann, offenbar anzugreifen, oder in eine der Schlingen zu locken, die sie ihm überall zu legen beflissen sind. Ich möchte wohl wissen, wie es möglich wäre, daß ihn dieß nicht mißtrauisch, argwöhnisch, feindselig und streng gegen Leute machen sollte, von deren versteckten Dolchen er allenthalben umringt ist. Man hört die bittersten Klagen, daß keine zwey oder drey Bürger aus den höhern Klassen mit einander sprechen können, ohne sich von Aufpassern und Angebern belauscht zu sehen: als ob dieß eine andere Ursache hätte, als weil Dionysius sicher darauf rechnen kann, daß nicht leicht zwey oder drey Personen dieser Art beysammen stehen, ohne eine Verschwörung gegen ihn zu verabreden. Sie zwingen ihn zu tyrannischen Maßregeln, und schreyen dann über seine Gewaltthätigkeit und Grausamkeit. Wäre er nicht immer von etlichen Freunden, die einerley Interesse mit ihm verbindet, und von einer ausländischen Leibwache, auf die er sich gänzlich verlassen kann, umgeben, so möchte er der weiseste und beste aller Fürsten seyn, er wäre seines Lebens keinen Augenblick sicher. Wahrlich es gehört ein Mann wie er dazu, ein Mann, dessen Karakter ein so sonderbares Gemisch von Feuer und Kälte, von strenger Vernunft und launenhaftem Witz, von Geschmeidigkeit und Unbiegsamkeit, Humanität und Grausamkeit ist, um sich unter solchen Umständen nur acht Tage auf dem Throne zu erhalten. Was das Volk im engern Sinn des Wortes betrifft, dieß hängt zwar, dem Ansehen nach, ziemlich stark an ihm; aber es giebt nichts Veränderlichers in der ganzen Natur als die Sinnesart des Syrakusaners, und Dionysius weiß recht gut, daß er sich auf seine Popularität bey den untern Klassen eben so wenig verlassen kann, als er auf die Dankbarkeit eines Aristokraten zählen darf, dessen Zuneigung er durch die ausgezeichnetsten Gunstbezeugungen zu gewinnen gesucht hat. Die arbeitsamen Klassen hängen jetzt an ihm, weil er ihnen viel zu verdienen giebt, und weil die großen Zurüstungen, woran sie für ihn arbeiten, große, wiewohl dunkle und unbestimmte Erwartungen in ihnen erregen, auf deren Ausgang sie gespannt sind; aber ich stehe ihm nicht dafür, daß sie sich nicht, wenn der Krieg ausgebrochen seyn wird, beym ersten widrigen Zufall von irgend einem stürmischen Demagogen durch eine einzige mit emfatischen Frasen und gigantischen Figuren ausgestopfte Rede plötzlich umwenden, und dahin bringen lassen, die Waffen, an welchen sie jetzt arbeiten, anstatt gegen Karthago, gegen Dionysius zu gebrauchen. Auch versieht er sich keines bessern zu ihnen, wiewohl er ihnen äußerlich das unbefangenste Vertrauen zeigt.


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