Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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Nachdem wir diesen Einwurf auf die Seite gebracht haben, laß uns sehen wie Plato mit Einrichtung seiner Republik zu Werke geht. Es ist wirklich eine Lust zuzuschauen, wie sie aus dem gesellschaftlichen Verein von vier Handarbeitern, einem Feldbauer, Zimmermann, Weber und Schuster, gleich einer himmelan steigenden Ceder aus einem kleinen Samenkorn, zu einer mächtigen, glücklichen und in ihrer Art einzigen Republik empor wächst. Daß es sehr schnell damit zugeht, ist Natur der Sache; und mancher Leser mag sich wohl kaum enthalten können zu wünschen, daß die Sokratische Manier einen noch schnellern Gang erlaubt hätte, und daß wir nicht alle Augenblicke durch die Frage: oder ist's nicht so? aufgehalten würden, wobey die beiden Gebrüder mit ihrem ewigen: Ja wohl! eine ziemlich betrübte Figur zu machen genöthig sind. Das Einzige, was wir dem wackern Glaukon zu danken haben, ist, daß wir in der neuen Republik etwas besser gehalten und beköstiget werden als Sokrates es Anfangs gesonnen war. Denn, wie er selbst ziemlich leicht bekleidet zu seyn und schlecht zu essen gewohnt war, so sollten auch seine neuen Ansiedler im Sommer meistens nackt gehen, Kleider und Schuhe nur im Winter tragen, von Gerstengraupen, Mehlbrey und Kuchen leben, und auf Binsenmatten, mit Windekraut und Myrtenzweigen bestreut, in geselliger Fröhlichkeit Mahlzeit halten. Aber auf Glaukons Vorstellung, daß sie doch auch einige Gemüse und Zulagen zu dieser gar zu magern Kost haben sollten, läßt er sich gefallen, ihnen noch Salz, Oliven, Käse, Zwiebeln und Gartenkräuter, auch statt des Nachtisches Feigen, Erbsen, Saubohnen, Myrtenbeeren und geröstete Bucheckern zu bewilligen. Bey den Bucheckern scheint dem ehrlichen Glaukon die Geduld auszugehen; er wird für einen wohlerzogenen Athenischen Patrizier ein wenig grob, und fragt den Sokrates: wenn er eine Republik von Schweinen zu stiften hätte, womit er sie anders füttern wollte? – Was wäre denn zu thun, Glaukon, erwiedert dieser mit seiner gewohnten Kaltblütigkeit. – Ey was bey allen rechtlichen Leuten der Gebrauch ist, antwortet jener; laß sie, anstatt so armselig zu leben, fein ordentlich auf Polstern um Tische herumliegen, und gieb ihnen zu essen wie man heut zu Tage zu speisen pflegt. Ah, nun versteh ich dich, sagt Sokrates; meine Stadt, worin alles nur für die wirklichen Bedürfnisse ihrer Bürger berechnet ist, scheint dir zu dürftig; du willst eine, wo es recht üppig zugeht. Sey es darum! Wiewohl jene die wahre und gesunde ist, so hindert uns doch nichts, wenn ihr wollt, auch eine kranke, von überflüssigen und verdorbenen Säften aufgedunsene Stadt etwas näher zu besehen. Er läßt sich nun in eine umständliche Aufzählung aller der unnöthigen und bloß der Eitelkeit und Wollust dienstbaren Personen und Sachen, Künste und Lebensarten ein, welche die Üppigkeit, wofern ihr der Zugang in die neue Stadt Einmahl geöffnet wäre, den Einwohnern in kurzen unentbehrlich machen würde; und wir andern Liebhaber der nachahmenden und bildenden Künste können uns nicht enthalten, ein wenig schel dazu zu sehen, daß er bey dieser Gelegenheit auch von den Mahlern und Bildnern, Tonkünstlern und Dichtern, mit ihren Dienern, den Rhapsoden, Schauspielern und Tänzern, als von Leuten spricht, die in seiner gesunden Stadt nichts zu schaffen hätten, und die er ohne Bedenken mit den Putzmacherinnen und Haarkräuslerinnen, Bartscherern, Garköchen und – Schweinhirten in eben dieselbe Linie stellt. Die gesunde Stadt, wovon Anfangs die Rede war, und ihr Gebiet, wird also (fährt er fort) für alle diese Menschen sowohl als für die große Menge von allen Arten Thieren, die der Üppigkeit zur Nahrung dienen, viel zu klein seyn; wir werden sie sehr ansehnlich vergrößern und erweitern müssen, und da dieß nicht anders als auf Unkosten unsrer Nachbarn geschehen kann, welche dieß, wie natürlich, nicht leiden, und, wenn sie eben so habsüchtig und lüstern sind wie wir, sich das nehmliche gegen uns herausnehmen werden, was wird die Folge seyn? Wir werden uns mit ihnen schlagen müssen, Glaukon? oder wie ist zu helfen? Wir schlagen uns, antwortet Glaukon ohne sich zu besinnen. Wir werden also, fährt Sokrates fort, ohne jetzt aller andern Übel, die den Krieg begleiten, zu gedenken, unsre Stadt abermahls erweitern müssen, um für ein ansehnliches Kriegsheer Raum zu bekommen? – Glaukon hält dieß für unnöthig; die Bürger, meint er, womit die Stadt bereits so ansehnlich bevölkert sey, wären zu ihrer Vertheidigung hinreichend. Aber Sokrates beweist ihm mit der unbarmherzigsten Ausführlichkeit, daß ein eigener Stand, der nichts anders zu thun habe als sich mit den Waffen zu beschäftigen, in einem wohlbestellten Staat ganz unentbehrlich sey. Er stützt sich hierbey auf einen Grundsatz, den er gleich Anfangs festgesetzt hatte, da von den verschiedenen Professionen die Rede war, deren wechselseitige Hülfsleistung zu Befriedigung der gemeinschaftlichen Bedürfnisse die Veranlassung und der Zweck der ersten Stifter seiner Republik war; nehmlich: daß jeder, um es in seinem Geschäfte desto gewisser zur gehörigen Vollkommenheit zu bringen, sich der Kunst oder Hanthierung, wozu er am meisten Neigung und Geschick habe, mit Ausschluß aller andern widmen müsse. Da nun Krieg führen, und alle Arten von Waffen recht zu gebrauchen wissen, unstreitig eine Kunst sey, welche viel Vorbereitung, Geschicklichkeit und Kenntniß erfordere, so würde es ungereimt seyn, wenn man dem Schuster verböte, den Weber oder Baumeister oder Ackermann zu machen, die Kunst des Kriegsmanns hingegen für so leicht und unbedeutend hielte, daß jedermann sie zugleich mit seiner eigentlichen Profession als eine Nebensache treiben könne.

Es sollte dem guten Glaukon, wofern er nur die Hälfte seines vorhin so stark erprobten Witzes hätte anwenden wollen, nicht schwer gefallen seyn, dieser Behauptung des Sokrates, und den Gründen womit er sie unterstützt, triftige Einwürfe entgegen zu stellen: aber Plato hat noch so vielen und mannigfaltigen Stoff in diesem Dialog zu verarbeiten, daß er sich an das dramatische Gesetz, jeder Person ihr Recht anzuthun, so genau nicht binden kann; und da die Rede nun Einmahl (wiewohl bloß zufälliger Weise) von den Beschützern des Staats ist, aus welchen sein Sokrates die zweyte Klasse der Bürger seiner Republik bestellt: so fährt er sogleich in seiner erotematischen Methode (wobey er uns mit den Antworten des Gefragten und dem unzählige Mahl wiederholten, tödtlich ermüdenden, sagte ich, und sagte er, fast immer hätte verschonen können) fort, sich über die Naturgaben und wesentlichen Eigenschaften, die einem guten Soldaten unentbehrlich sind, vernehmen zu lassen. Ich gestehe, daß der Einfall, sich hierzu der Vergleichung des Staatsbeschützers mit einem tüchtigen Hofhunde zu bedienen, und zum Theil auch die Art wie er sich dabey benimmt, so völlig im Karakter und in der Manier des wahren Sokrates ist, daß Plato ihn vielleicht eher seinem Gedächtniß als seiner Nachahmungskunst zu danken haben könnte. Es kommen solcher Stellen hier und da in diesem Werke mehrere vor, die, in meinen Augen, gerade das gefälligste und anziehendste darin sind. Nur Schade daß Plato es auch hier nicht lassen kann, dem reinen Sokratischen Gold etwas von seinem eignen Bley beyzumischen. Oder dünkt es dich nicht auch, Eurybates, daß der witzige Einfall, dem Hunde (außer der Stärke, Behendigkeit, Wachsamkeit, Zornmüthigkeit und der sonderbaren Eigenheit, die ihn von den eigentlich so genannten wilden Thieren unterscheidet, daß er seinen anschnaubenden beißigen Naturtrieb nur gegen Fremde und Unbekannte ausläßt, gegen Heimische, Hausfreunde und Bekannte hingegen sanft und freundlich ist) – sogar noch ein filosofisches Naturell zuzuschreiben, dünkt es dich nicht, daß dieser Einfall eher dem Aristofanischen Sokrates, als dem, den wir gekannt haben, ähnlich sieht, und bloß dazu da ist, um die Ähnlichkeit zwischen einem guten Hund und einem braven Kriegsmann, der, nach Platon, schlechterdings auch Filosof seyn muß, vollständig zu machen? Wenigstens ist der doppelte Beweis, warum sowohl der Soldat als der Hund Filosof ist, so ächt Platonisch, daß ich mirs nicht verwehren kann, dir diese Stelle, zu Ersparung des Nachschlagens, von Wort zu Wort vor Augen zu legen; wär' es auch nur, damit du mir nicht etwa einwendest, Sokrates habe diesen Einfall nur scherzweise vorgebracht.

SOKRATES. Dünkt es dich nicht, daß ein künftiger Wächter und Beschirmer des Staats zu dem jähzornigen Wesen, das ihm nöthig ist, auch noch von Natur Filosof seyn müsse?

GLAUKON. Wie so? ich verstehe nicht, was du damit sagen willst.

SOKRATES. Auch das kannst du an den Hunden ausfündig machen; es ist wirklich etwas bewundernswürdiges an diesem Thiere.

GLAUKON. Und was wäre das?

SOKRATES. So bald der Hund einen Unbekannten erblickt, fängt er an zu knurren und böse zu werden, wiewohl ihm jener nichts zu Leide gethan hat; den Bekannten hingegen bewillkommt er, nach seiner Art, aufs freundlichste, wenn er gleich nie etwas Gutes von ihm empfing. Ist dir das noch nie als etwas wundernswürdiges aufgefallen?

GLAUKON. Ich habe bisher nie besonders darauf Acht gegeben; die Sache verhält sich indessen wie du sagst.

SOKRATES. Gleichwohl scheint dieser Naturtrieb etwas sehr feines und ächt filosofisches an ihm zu seyn.

GLAUKON. Warum das?

SOKRATES. Weil er einen freundlichen und feindlichen Gegenstand durch nichts anders unterscheidet, als daß er jenen kennt, diesen nicht kennt. Wie sollte er nun nicht lernbegierig seyn, da er das Heimische von dem Fremden bloß durch Erkenntniß und Unwissenheit unterscheidet?

GLAUKON. Es kann wohl nicht anders seyn.

SOKRATES. Ist aber ein lernbegieriges und ein filosofisches Naturell nicht eben dasselbe?

GLAUKON. Doch wohl!

SOKRATES. Warum sollten wir also nicht kecklich auch in dem Menschen setzen, daß er, um gegen Hausgenossen und Bekannte sanft und gutartig zu werden, Filosof und lernbegierig seyn müsse?

GLAUKON. So setzen wirs denn! – Und ich, meines Orts, setze, daß diese Manier zu filosofieren eine eben so unfilosofische als langweilige Manier sey, wiewohl nicht zu läugnen ist, daß wir ihr wenigstens ein gutes Drittel dieses dickleibigen Dialogs zu danken haben.

Nachdem also Sokrates auf diese sinnreiche Weise herausgebracht und zum Überfluß nochmahls wiederhohlt hat, »daß ein Beschützer seines idealischen Staats, um seiner Bestimmung aufs vollkommenste zu entsprechen, die verschiedenen Tugenden eines edeln Haushundes in sich vereinigen, und auf alle Fälle so filosofisch und zornmüthig, bebend und stark seyn müsse als der stattlichste Molosser, – wirft er die Frage auf: was man ihnen, um sie zu möglichst vollkommnen – Staatshunden zu bilden, für eine Erziehung geben müßte? Eine Untersuchung, welche, wie er meint, nicht wenig zur Auflösung des Problems, »wie Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in einem Staat entstehe« beytragen würde. Adimanth bekräftigt dieses letztere sogleich mit großem Nachdruck, ohne daß man sieht warum; denn daß er, so gut wie der Verfasser des Dialogs selbst, voraus gesehen haben könnte, wie dieser dem Diskurs forthelfen werde um zu dem besagten Resultat zu gelangen, ist nicht wohl zu vermuthen. Sokrates giebt zu verstehen, diese Untersuchung dürfte sich ziemlich in die Länge ziehen, meint aber doch, daß dieß kein Grund sey die Sache aufzugeben, zumahl da sie gerade nichts besseres zu thun hätten. Adimanth ist, wie sichs versteht, dazu willig und bereit. Wohlan denn! was für eine Erziehung wollen wir also unsern Staatsbeschützern geben? Es dürfte schwer seyn eine andere zu finden, als die schon längst erfundene, nehmlich die Gymnastik für den Körper, die Musik (in der weitesten Bedeutung dieses Wortes) für die Seele. – Auf Musik und Gymnastik also schränkt sich auch in der Platonischen Stadt, deren Einrichtung uns beschäftigt, das ganze Erziehungswesen ein; aber beide sind freylich in dieser ganz etwas anders als in unsern üppigen und von bösen Säften aufgeschwollnen ungesunden Republiken. Die Ausführung dieses Satzes nimmt den ganzen beträchtlichen Rest des zweyten Buchs und ein großes Stück des dritten ein; und wiewohl der heftige Ausfall gegen unsre epischen und dramatischen Dichter nur eine Episode ist, und nicht in gehörigem Ebenmaße mit dem Ganzen stehen möchte, so ist sie doch (außer ihrer Zweckmäßigkeit für die Absicht unsers Filosofen) als ein für sich selbst bestehendes Stück betrachtet, bis auf eine oder zwey die Musik im engern Verstande sind die nachahmenden Künste betreffende Stellen, so vortrefflich ausgearbeitet, und in jedem Betracht so unterhaltend, lehrreich und zum Denken reitzend, daß ich versucht wäre, sie, mit der Rede Adimanths (wovon sie gewisser Maßen die Fortsetzung und vollständigere Ausführung ist) für das beste des ganzen Werks zu halten, wenn ihr der Diskurs über die Gymnastik nicht den Vorzug streitig machte.


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