Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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ARISTIPP. Mich däucht, lieber Sokrates-Platon, der gute Glaukon hat dir zu schnell gewonnenes Spiel gegeben. Erlaube daß ich eine kleine Weile seine Stelle vertrete und in seinem Nahmen einige unschuldige Gegenfragen an dich thue.

SOKRATES. Frage immer zu.

ARISTIPP. Giebt es unter allen Körpern in der Welt einen, den deine Seele den ihrigen nennt?

SOKRATES. Allerdings.

ARISTIPP. Thust du dieß nicht, weil deine Seele in einer viel engern, besondrern und unmittelbarern Verbindung mit ihm steht als mit irgend einem andern?

SOKRATES. Getroffen!

ARISTIPP. Belehrt uns nicht die tägliche Erfahrung, daß wir ohne unsern Körper weder sehen noch hören, noch von irgend etwas, das außer uns ist oder zu seyn scheint, ja nicht einmahl von Uns selbst, die mindeste Kenntniß hätten?

SOKRATES. In diesem Leben wenigstens können wir nichts von allem diesem ohne unsern Körper.

ARISTIPP. Lehrt uns die Erfahrung nicht überdieß, daß wir ohne Hülfe unsers Leibes nichts von allem, was wir zu verrichten und hervor zu bringen wünschen, ausführen können? Ingleichem, daß so bald der Leib leidet und in seiner natürlichen Lebensordnung gestört wird, auch die Seele, sie wolle oder nicht, sich zur Mitleidenheit gezogen fühlt, und je größer die Leiden ihres Körpers sind, desto mehr auch in ihren eigenen Verrichtungen, im Denken, und in der Freyheit ihre Gedanken zu gewissen Absichten zu ordnen, unterbrochen und aufgehalten wird?

SOKRATES. Ich sehe nicht, wie dieß geleugnet werden könnte.

ARISTIPP. Ist es also nicht natürlich, daß die Seele in solchen Umständen und Lagen ein Verlangen trägt, ihrem Körper nach Möglichkeit zu Hülfe zu kommen?

SOKRATES. Sehr natürlich.

ARISTIPP. Sollte nun aber nicht eben so natürlich seyn, daß eben dieselbe Seele, die ihrem Leibe wohl will und seine Erhaltung begehrt, auch alles verabscheuen muß, was seinen Wohlstand unterbricht oder ihn gar zu zerstören droht? Oder wie sollt' es möglich seyn, daß die Seele Etwas wollte, ohne das Gegentheil nicht zu wollen? Oder daß sie Etwas ernstlich und eifrig begehrte, ohne daß sie das, was der Befriedigung dieses Verlangens entgegen steht, aus dem Wege zu räumen suchte?

SOKRATES. Es ist klar, daß in dem angenommenen Fall das Nichtwollen im Wollen, das Verabscheuen im Begehren nothwendig enthalten ist.

ARISTIPP. Lehrt uns die Erfahrung nicht, daß, da unser Leib zur Erhaltung seines Lebens und seiner Kräfte von Zeit zu Zeit Speise und Trank bedarf, die Natur im Bau desselben eine solche Einrichtung getroffen hat, daß wir durch eine gewisse Unbehäglichkeit an dieses Bedürfniß erinnert werden, und daß diese Unbehäglichkeit, je nachdem das Bedürfniß größer und dringender wird, so lange zunimmt, bis es endlich peinvoll und unausstehlich ist?

SOKRATES. Wiewohl ich das letztere nicht aus eigener Erfahrung weiß, so zweifle ich doch so wenig daran, daß die unmittelbare Erfahrung mich nicht stärker überzeugen könnte.

ARISTIPP. Wie nennst du diese Aufforderung der Natur jenen Bedürfnissen unsers Leibes zu Hülfe zu eilen?

SOKRATES. Hunger und Durst.

ARISTIPP. Und das wodurch beiden abgeholfen wird?

SOKRATES. Speise und Trank.

ARISTIPP. Sollten wir also den Hunger und den Durst, als Gefühle, die uns die Natur selbst aufgedrungen hat, nicht mit gutem Fug Naturtriebe nennen können?

SOKRATES. Ich sehe nicht was uns daran hindern sollte.

ARISTIPP. Wenn mich dürstet, regt sich der Trieb zum Trinken zunächst im Leibe, der des Getränks bedarf, oder in der Seele, die weder trinken kann noch dessen für sich selbst nöthig hat?

SOKRATES. Nur ein Wahnsinniger könnte das letztere behaupten.

ARISTIPP. Man kann also, eigentlich zu reden, nicht sagen, die Seele dürste; und Plato hatte ein wenig Unrecht, einen so vernünftigen Mann wie Du bist, etwas so unschickliches sagen zu lassen.

SOKRATES. Schlimm genug für mich oder ihn, daß ihm das nur gar zu oft begegnet.

ARISTIPP. Wenn also, wie die Erfahrung gleichfalls lehrt, dieser körperliche Trieb, welcher unmittelbar aus dem Gefühl des Bedürfnisses entsteht, in der Seele des Dürstenden zur Begierde jenen Trieb zu befriedigen, und zur Verabscheuung des aus der Nichtbefriedigung entstehenden peinlichen Zustandes wird, kommt dieß nicht bloß daher, weil sie an dem Zustande des Leibes, ihres unmittelbaren Gefährten und Gehülfen, Antheil zu nehmen genöthigt ist; und weil sie, auch um ihrer Selbst willen, desto lebhafter und ungeduldiger wünschen muß, daß der Dürstende zu trinken bekomme, je dringender sein Bedürfniß, je quälender sein Durst, und je peinlicher folglich ihr selbst die Hemmung ihrer freyen Thätigkeit wird, die eine natürliche Folge desselben ist?

SOKRATES. Ich sehe nicht, wie ich mir die Sache anders denken könnte.

ARISTIPP. Wenn nun kein besonderer Grund vorhanden ist, warum der Dürstende sich des Trinkens enthalten soll, so ist auch nichts da, was die Überlegung oder die Vernunft verhindern könnte, ihre Einwilligung dazu zu geben; Trieb, Begierde und freyer Wille fallen alsdann in einander, und es ist klar, daß wir nicht zwey verschiedene Principien anzunehmen brauchen, um das, was in der Seele dabey vorgeht, begreifen zu können. Laß hingegen irgend einen Grund des Nichttrinkens vorhanden seyn, z. B. daß kein anderes als stinkendes Wasser, oder irgend ein Getränk, dessen Schädlichkeit dem Dürstenden bekannt ist, vorhanden, oder daß noch vorher irgend ein äußerst dringendes Geschäft abzuthun, der Durst hingegen noch erträglich wäre: so würde zwar der mechanische Trieb zum Trinken nichts dadurch von seiner Stärke verlieren, aber die Begierde, durch die Überlegung unterdrückt, würde dem Willen nicht zu trinken Platz machen; und dieß auf eben die Weise, wie wir, wenn wir uns mit Überlegung, aber aus irriger Meinung zu etwas entschlossen haben, unsern Entschluß ändern, so bald wir den Irrthum gewahr werden, wiewohl es eben dieselbe Vernunft ist, die uns in beiden Fällen bestimmt. Oder sollte es etwa, zu Erklärung dieser so häufig vorkommenden Veränderlichkeit unsrer Meinungen und Entschließungen, einer zweyfachen vernünftigen Seele bedürfen, einer die sich irren kann, und einer andern, die sich nie irrt, und welcher jene unterthan zu seyn verbunden ist?

SOKRATES. Mich dünkt Eine und eben dieselbe Seele sollte hinlänglich seyn, Alles was in den besagten Fällen in ihr vorgeht zu bestreiten.

ARISTIPP. So lange uns also Plato nicht gezeigt haben wird, daß es andere Fälle gebe, wo der Mensch in eben demselben untheilbaren Augenblick, in Ansehung eben desselben Gegenstandes, von der Begierde nach einer gewissen Richtung, und von der Vernunft nach der entgegen gesetzten gezogen werde, ist keine Ursache vorhanden, warum wir aus dem was in uns begehrt, und dem was in uns überlegt und wählt, zwey verschiedene Seelen machen sollten.

SOKRATES. Aber wie, wenn (um bey unserm bisherigen Beyspiele zu bleiben) der Durst endlich auf einen so hohen Grad dringend würde, daß seine Pein unausstehlich wäre, und der Dürstende könnte schlechterdings keines andern Getränkes habhaft werden als eines Bechers voll Schierlingssaft, entstände da nicht der Fall, wo Begierde und Überlegung den Menschen zugleich nach zwey entgegen gesetzten Richtungen ziehen würde?

ARISTIPP. Ich weiß nicht ob jemahls ein solcher Fall Statt gefunden haben mag; wenigstens werden wir, weil die Erfahrung uns hier verläßt, das, was in diesem unbekannten Falle geschehen müßte, nur aus dem, was uns von der menschlichen Natur überhaupt bekannt ist, oder aus ähnlichen Fällen durch Muthmaßung heraus bringen können. Auf alle Fälle ist gewiß, daß eben dieselbe Seele, die dem dringenden Bedürfniß des verlechzenden Körpers um jeden Preis abgeholfen wissen will, den Gifttrank, so bald sie ihn für einen solchen erkennt, in so fern er dem Körper die gänzliche Zerstörung droht, verabscheuen muß. Dessen ungeachtet bin ich überzeugt, so bald das Bedürfniß zu trinken aufs äußerste, und folglich die Pein des Durstes auf einen so fürchterlichen Grad gestiegen wäre, daß dem Unglücklichen nichts übrig bliebe, als sein Leben an die Erleichterung der gegenwärtigen Qual zu setzen: so würde nicht nur der sinnliche Abscheu von der wüthenden Begierde übertäubt werden, sondern die Vernunft selbst, wenn sie kein anderes Rettungsmittel vorzuschlagen hätte, würde die leichtere und schnellere Todesart der grausamem vorziehen, und der Begierde keinen vergeblichen Widerstand entgegen setzen. –

Aber genug, lieber Eurybates, für eine kleine Probe, welche freylich drey Mahl so groß hätte ausfallen mögen, wenn ich, nach der Weise meines Vorgängers, jede Frage noch in zwey oder drey dünnere hätte spalten wollen.

In Betreff des so genannten Thymos, welchen Plato zum dritten – ich weiß nicht was in unsrer Seele macht, muß ich zu dem bereits Gesagten nur noch hinzusetzen, daß alle Schwierigkeiten von selbst wegfallen, so bald bey den Erscheinungen, die er unter dieser Benennung begreift, das, was seinen unmittelbaren Grund in der organischen Beschaffenheit des Leibes hat, von dem was das eigentliche Werk der Seele dabey ist, so genau als möglich unterschieden wird. Überhaupt fehlt sehr viel, daß dieses vorgebliche Princip bey allen Menschen gleiche Wirkungen hervorbringe: die Verschiedenheit des Temperaments, der Nervenstärke und Muskelkraft, der von Jugend an gewohnten Lebensweise und anderer Umstände, giebt gar verschiedene Resultate. Der Eine zittert vor dem bloßen Anschein einer Gefahr, da ein Andrer gar nicht weiß was Furcht ist, und seinen Muth mit der Gefahr steigen fühlt. Dieser ergrimmt über etwas, das Jenen kaum aus dem Gleichgewicht rückt. Bey einigen ist hoher Muth mit Sanftheit und Zartgefühl, bey ungleich mehreren mit Rohheit, Härte und Gefühllosigkeit verbunden, u. s. w. Das aber, was ohne Zweifel allen Menschen gemein ist, – der natürliche, mit mehr oder minder lebhaftem Widerstand verbundene Abscheu vor Allem, was unsern gegenwärtigen Zustand zu verschlimmern, oder gar unser Wesen selbst zu zerstören droht, – und die Begierde alles, was sich als angenehm, unserm Wesen zuträglich und den Genuß unsers Daseyns verstärkend, kurz, was sich uns unter der freundlichen Gestalt des Schönen und Guten darstellt, an uns und so viel möglich in uns hinein zu ziehen, – ich sage jener Abscheu und Widerstand entspringt mit dieser Begierde und Anziehung aus einer und eben derselben Wurzel. Beide bedürfen, um uns in ihren Wirkungen begreiflich zu werden, keines andern Princips, als dessen, worin unser Wesen selbst besteht, dieser sich selbst bewegenden Kraft, die sich in dem unaufhörlichen Bestreben äußert, ihr durch den Körper beschränktes, aber innigst mit ihm verwebtes Seyn zu genießen, zu nähren, zu erweitern und zu erhöhen; und die immer eben dieselbe ist, es sey nun daß sie, als Begierde, das was ihr gut scheint an sich zu ziehen, oder, als Abscheu, das wirkliche oder vermeinte Böse zurück zu stoßen strebt. Zu Erklärung dieser so nothwendig mit einander verbundenen und unter der Regierung der Vernunft so harmonisch zu einerley Zweck zusammen wirkenden Bestrebungen eben derselben Kraft, zwey besondere Seelen anzunehmen, dünkt mich eben so unfilosofisch, als wenn man, um sich die verschiedenen Wirkungen der Liebe und des Hasses zu erklären, eine liebende und eine hassende Seele erdichten wollte. Nach Platons Art zu räsonnieren würden wir zuletzt jeder besondern Leidenschaft, wiewohl sie alle aus einerley Quelle entspringen, ihre eigene Seele geben müssen; denn sehen und erfahren wir nicht täglich bey tausend Gelegenheiten, daß eine begehrliche Leidenschaft mit einer andern, öfters sogar mit mehrern zugleich (z. B. der Geitz mit Gewinnsucht, Eitelkeit und Lüsternheit) in offenbaren Widerspruch geräth?

Doch genug und schon zu viel über die zwey untersten Endpunkte des Platonischen Seelen-Dreyecks. Sollte es mit der vernünftigen Seele, welche die oberste Spitze desselben ist, nicht die nehmliche Bewandtniß haben? Sollten sich nicht alle Erscheinungen und Wirkungen der Sinnlichkeit und der Einbildungskraft, des Verstandes und des Willens, der Leidenschaften und der Vernunft, sehr wohl aus Einer und eben derselben mit einem organischen Körper vereinigten Seele erklären lassen? Können sie nicht ganz natürlich und ungezwungen als bloße verschiedene Modalitäten oder Zustände eben derselben selbstthätigen Kraft gedacht werden, welche, je nachdem sie von ihrem Körper und andern in sie einwirkenden Dingen außer sich mehr oder minder eingeschränkt wird, und je nachdem sie sich selbst aus verschiedenen Beweggründen und Absichten eine andere Richtung oder Stimmung giebt, oder ihre Kraft höher oder tiefer spannt, sich unter andern Gestalten zeigt und andere Benennungen erhält? Sind wir nicht sogar durch das innigste Selbstbewußtseyn genöthigt, unser Ich in allen seinen Veränderungen, Zuständen und Gestalten, selbst in den ungleichartigsten und unverträglichsten (z. B. im Übergang aus der Trunkenheit einer heftigen Leidenschaft in den heitern Stand der ruhigen Besonnenheit) für Ebendasselbe zu erkennen? Ich möchte wohl sehen, wie uns Plato dieses immerwährende Zusammenfließen seiner drey Seelen in der Einheit des Bewußtseyns, ohne eine ihm und uns bisher unbekannte vierte Seele, begreiflich machen wollte?

Übrigens bedarf es kaum der Erwähnung, daß ich gegen die allgemeinen, aller ächten Lebensweisheit zum Grunde liegenden Wahrheiten, womit sich das vierte Buch schließt, und gegen die Formel, in welcher Plato seine Theorie über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zusammen faßt – »daß die Tugend der Seele eben das sey, was Gesundheit, Schönheit und vollkommenes Wohlbefinden dem Leibe,« und gegen die Behauptung, »daß beide Arten von Gesundheit aus einerley Ursachen entspringen, wenn nehmlich jeder Theil, in gehörigem Verhältniß zu den übrigen, nichts als sein ihm eigenthümliches Geschäft verrichte, und im Ganzen die reinste Übereinstimmung und Ordnung herrsche« – nichts zu erinnern habe. Warum er uns aber zu so sonnenklaren, von Niemand, meines Wissens, bestrittenen und, wie er selbst gesteht, so augenscheinlich vor unsern Füßen liegenden Wahrheiten auf solchen Umwegen und durch so viele struppichte Dornhecken geführt hat, bleibt indessen immer eine Frage, die er selbst vielleicht durch den Ausspruch des alten Hesiodus beantwortet glaubt: daß die Götter es nun Einmahl so in der Art haben, den Sterblichen nichts Gutes ohne große Müh' und Beschwerde zukommen zu lassen.


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