Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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Übrigens täusche ich mich vielleicht, indem es mir vorkommt, als ob Sokrates, von diesem Mährchen an, durch alle folgende Bücher sich selbst verloren habe, und sich mit aller Mühe nicht wieder finden, oder, wenn er auch zuweilen in seinen eigenen Ton zurück fällt, sich doch nicht lange darin erhalten könne. Ich drücke mich hierüber so schüchtern aus, weil es sehr möglich ist, daß die Ursache, warum mir dieß so vorkommt, vielmehr in meiner Gewohnheit, mir einen ganz andern Sokrates zu denken, als in einem Mangel an Haltung liegt, der dem Verfasser des Dialogs Schuld gegeben werden könnte. Die Wahrheit zu sagen, der Sokrates, den er darin die doppelte Rolle des Erzählers und der Hauptperson des Drama's spielen läßt, ist und bleibt sich selbst durchgehends immer ähnlich; denn es ist immer Plato selbst, der unter einer ziemlich gut gearbeiteten und seinem eigenen Kopfe so genau als möglich angepaßten Sokrateslarve, nicht den Sohn des Sofroniskus, sondern sich selbst spielt. Hinter dieser Larve sieht er zuweilen, je nachdem er uns eine Seite zeigt, dem wahren Sokrates so ähnlich, daß man einige Augenblicke getäuscht wird: aber seine Stimme kann oder will er vielmehr nicht so sehr verstellen, daß die Täuschung lange dauern könnte; und überhaupt braucht man ihm nur näher auf den Leib zu rücken und ihn scharf ins Auge zu fassen, um den leibhaften Plato überall durchschimmern zu sehen. Dieser scheint sogar von Zeit zu Zeit die unbequeme Larve ganz wegzuschieben, und uns auf Einmahl mit seiner eigenen, von jener so stark abstechenden Fysionomie zu überraschen; und da er dieses seltsame Spiel, eben dieselbe Person bald mit bald ohne Larve zu machen, einen ganzen Tag lang treibt, so kann es nicht wohl fehlen, daß der Zuschauer endlich irre wird, und nicht recht weiß was man mit ihm vorhat, und ob er beym Schluß des Stücks zischen oder applaudieren soll.

Diese Ungewißheit ist indessen keineswegs der Fall im Rest des dritten und im Anfang des vierten Buchs. Eine unserm Filosofen eigene dialektische Spitzfündigkeit, die auch hier von Zeit zu Zeit durch die Lücken der Sokrateslarve durchguckt, abgerechnet, scheint er darin die angenommene Person wieder ziemlich gut zu spielen; so gut wenigstens, daß man sich geneigt fühlt, der Täuschung mit halb geschloßnen Augen nachzuhelfen; und wiewohl man sich hier und da nicht wohl erwehren kann ein wenig ungehalten auf den Schauspieler zu seyn, wenn er unversehens aus seiner Rolle heraustritt und anstatt den Sokrates rein fortzuspielen, in seine eigene Person zurück sinkt: so macht uns doch die Gewandtheit, womit er sich unvermerkt wieder in die angenommene hineinwirft, so viel Vergnügen, daß es wenig Mühe kostet ihm zu verzeihen und im Ganzen recht wohl mit ihm zufrieden zu seyn.

Die Rede ist nun im Rest des dritten Buchs davon, wie die aus dem Schooß der Erde in voller Rüstung hervorgesprungnen Beschirmer oder Soldaten unsers idealischen Staats in Ansehung der Wohnung, Nahrung und aller übrigen zum Leben gehörigen Stücke gehalten werden sollen. Da in der vollkommensten Republik alles rein konsequent und zweckmäßig seyn muß; da es in derselben nicht darum zu thun ist, die einzelnen Gliedmaßen des Staats, sondern das Ganze so glücklich als möglich zu machen, und das letztere auf keine andere Weise zu erhalten steht, als wenn jede Klasse, und jeder einzelne Bürger in der seinigen, gerade das und nichts anders ist, als was sie vermöge ihres Verhältnisses zum Ganzen nothwendig seyn müssen; so dürfen wir uns nicht wundern, daß Plato den bewaffneten Theil der Bürger, welcher bloß zum Schutz der Gesetze und des Staats, zu Vollziehung der Befehle der Regenten und zu Vertheidigung aller übrigen Bürger da ist, in allen Stücken auf das bloße Unentbehrliche setzt. Sie wohnen in schlechten Baraken, haben außer ihren Waffen und was die höchste Nothdurft zum Leben fordert, nicht das geringste Eigenthum; halten ihre äußerst frugalen Mahlzeiten gemeinschaftlich in öffentlichen Sählen, und leben in allen Stücken in der nehmlichen Ordnung beysammen, wie sie im Lager leben müßten. In diesem und allen andern Stücken sind sie der strengsten Disciplin unterworfen; mit Einem Wort, nichts ist vergessen, was es ihnen unmöglich macht, jemahls aus den Schranken ihrer Bestimmung herauszutreten, und »aus treuen und wachsamen Hunden der Herde sich in Wölfe zu verwandeln.« – Alles dieß und was dahin einschlägt, führt Sokrates gegen die Zweifel und Einwürfe Adimanths so gründlich und sinnreich aus, daß weder diesem noch dem Leser das Geringste gegen die Zweckmäßigkeit dieses Theils der Verfassung der Republik einzuwenden übrig bleibt.

Was bey dem Allem nicht wenig zum Vergnügen der Leser beyzutragen scheint, ist die anscheinende Unordnung, oder, richtiger zu reden, die unter diesem Schein sich verbergende Kunst, wie der Dialog, gleich einem dem bloßen Zufall überlassenen Spaziergang, indem er sich mit vieler Freyheit hin und her bewegt, unter lauter Digressionen dennoch immer vorwärts schreitet, und dem eigentlichen Ziel des Verfassers (wie oft es uns auch aus den Augen gerückt wird) immer näher kommt. Wenigen dieser kleinern oder größern Abschweifungen fehlt es an Interesse für sich selbst: sie schlingen sich aber auch überdieß meistens so natürlich aus und in einander, und lenken wieder so unvermerkt in den Hauptweg ein, daß man den Umweg entweder nicht gewahr geworden ist, oder sichs doch nicht reuen lassen kann, ihn gemacht zu haben. Dieß ist zwar nicht immer, aber doch wenigstens öfters, der Fall; und ich finde um so nöthiger diese Bemerkung hier nachzuhohlen, da sie, wo nicht zu völliger Widerlegung, doch zu gebührender Einschränkung dessen dient, was ich oben, aus dem Mund etlicher vielleicht gar zu schulgerecht urtheilender Kunstfreunde, gegen die Komposizion dieses Dialogs, als dichterisches Kunstwerk betrachtet, erinnert habe. Ein Gespräch dieser Art kann und soll weder an die Gesetze der architektonischen Symmetrie, noch an die Regeln des historischen Gemähldes gebunden werden; es ist in dieser Rücksicht noch freyer als die Kratinische und Aristofanische Komödie selbst; die größte Kunst des Dialogendichters ist, seinen Plan unter einer anscheinenden Planlosigkeit zu verstecken, und nur dann verdient er Tadel, wenn er sich von seinem Hauptzweck so weit verirrt, daß er sich selbst nicht wieder ohne Sprünge und mühselige Krümmungen in seinen Weg zurück finden kann.

Nachdem Platons Sokrates mit den Beschirmern seiner Republik, unter den gehörigen Voraussetzungen so ziemlich auf dem reinen ist, wirft er (bloß um Adimanthen auf eine Probe zu stellen, wie es scheint) die Frage auf. ob es wohl auch nöthig seyn dürfte, ihre neue Republik mit Gesetzen über die Eigenthumsrechte, und die willkührlichen Handlungen der Bürger unter einander, und die Rechtshändel die aus dem Zusammenstoß ihrer Ansprüche oder aus persönlichen Beleidigungen entstehen, kurz mit Gesetzen über eine Menge von Gegenständen, die in unsern Republiken vom gewöhnlichen Schlag unentbehrlich sind, zu versehen? – Aber Adimanth ist der Meinung, ihre Republik bedürfe aller dieser armseligen Stützen und Behelfe nicht; und es würde ganz überflüssig seyn, so verständigen und guten Menschen, wie die Bürger derselben sammt und sonders, vermöge ihrer Verfassung, Erziehung und Lebensordnung nothwendig seyn müßten, über diese Dinge etwas vorzuschreiben, da sie in jedem vorkommenden Falle die Regel, nach welcher sie sich zu benehmen hätten, ohne Mühe von selbst finden würden. Ganz gewiß, sagt Sokrates, werde dieß der Fall seyn, wofern ihnen Gott die Gnade gebe, den Gesetzen, die er ihnen vorhin bereits vorgeschrieben, getreu zu bleiben. Wo nicht, erwiedert Adimanth, so möchten sie immerhin (wie es in den gewöhnlichen Republiken zu gehen pflegt) ihr ganzes Leben damit zubringen, täglich neue Gesetze zu geben, in Hoffnung zuletzt noch wohl die rechten zu treffen, – wie gewisse Kranken, die sich vergebens schmeicheln durch beständiges Abwechseln mit neuen Arzneyen zu genesen, weil sie aus Unenthaltsamkeit die Lebensart nicht ändern wollen, welche der Grund ihrer Krankheit ist.

Sokrates setzt diese Vergleichung noch eine Weile fort, und findet sich dadurch in der Behauptung bestätiget, daß kein weiser Gesetzgeber weder in einem wohl, noch in einem schlecht geordneten Staat sich mit Gesetzen und Verordnungen dieser Art befassen werde; nicht in diesem, weil sie unnöthig und von keinem Nutzen wären, in jenem nicht, weil das, was in jedem vorkommenden Falle zu thun ist, jedem Bürger vermöge der Bildung und Richtung, die er durch die bereits bestehende Verfassung erhalten hat, von selbst einleuchten muß. Was bliebe uns also noch zu thun, um mit unsrer Gesetzgebung fertig zu seyn? fragt Adimanth. Uns nichts, antwortet Sokrates; denn den größten, schönsten und wichtigsten Theil derselben werden wir dem Delfischen Apollo überlassen. Und was beträfe dieß? fragte jener etwas gedankenlos; denn er hätte doch wohl mit einem Augenblick von Besinnung dem Sokrates die Mühe ersparen können, sich erklären zu müssen, daß die Anordnung der Tempel und Opfer und alles übrigen, was die Verehrung der Götter, Dämonen und Heroen, wie auch die den Verstorbenen zu Beruhigung ihrer Manen gebührende letzte Ehre betreffe, damit gemeint sey. Da wir selbst von allem diesem keine Wissenschaft haben, sagt Sokrates, und wenn wir weise sind, einen so wichtigen Theil der Einrichtung unsrer Stadt auch keinem andern Sterblichen anvertrauen werden, so können wir nichts bessers thun, als uns darüber von dem Gotte belehren zu lassen, der in solchen Dingen der angestammte Rathgeber aller Menschen ist, und bloß zu diesem Ende Delfi, als die Mitte oder den Nabel der Erde, zu seinem Sitz erwählt hat.

Sollte dir, Freund Eurybates, diese Stelle sowohl, als die kurz vorhergehende, wo Sokrates zu verstehen giebt, daß er selbst nicht begreife, »wie seine Republik, ohne unmittelbaren Beystand Gottes, sich bey ihrer ursprünglichen Verfassung lange werde erhalten können« – nicht eben so stark, wie mir, aufgefallen seyn? Zwar erkennen wir an dergleichen Äußerungen unsern alten Freund und Lehrer, der für den religiösen Volks- und Staats-Glauben nicht nur (wie billig) alle schuldige Ehrfurcht hegte, sondern im Glauben selbst nahezu bis zur Einfalt unsrer Großmütter ging, und durch den Kontrast, den dieser Zug seines Karakters mit seinem sonst so hellen Verstande machte, uns nicht selten in Erstaunen und Verlegenheit setzte. Aber Plato, dessen Art über unsre Volksreligion zu denken kein Geheimniß ist, mußte doch wohl mit diesen beiden Stellen etwas mehreres wollen, als seine eigenen Gedanken hinter diesem Zug seiner Sokrateslarve zu verbergen? Hätte er in diesem Werke wirklich die Absicht gehabt, der Welt das idealische Modell einer vollkommnen Republik zu hinterlassen, würde es da wohl seiner oder irgend eines andern ächten Filosofen würdig gewesen seyn, eine so wichtige Sache als die Religion ist, dem Delfischen Apollo, d. i. den Priestern des Tempels zu Delfi zu überlassen? Und wäre er selbst von der innern Güte und Realität seiner Republik, d. i. von ihrer reinen Übereinstimmung mit der menschlichen Natur, überzeugt gewesen, würde er wohl alle seine Hoffnungen, daß sie sich bey seinen Gesetzen werde erhalten können, auf einen Gott aus einer Maschine gegründet haben? Keines von Beiden, däucht mich. – Was ist es also, was er eigentlich damit wollte? – Durch den Kompromiß auf den Delfischen Apollo wollt' er sich, denke ich, den häkelichsten und gefährlichsten Theil der Gesetzgebung seiner Republik vom Halse schaffen; und glücklich für ihn, daß er dieß um so schicklicher thun konnte, da der starke Glaube des wirklichen Sokrates an jenen Gott ein bekannter Umstand ist. Mit der frommen Hoffnung hingegen, womit er die Erhaltung seiner Gesetzgebung dem Willen Gottes anheimstellt, konnt' er uns wohl nichts anders zu verstehen geben wollen, als daß er selbst von ihrer innern Lebenskraft und Dauerhaftigkeit keine große Meinung hege, und so gut als Andre wisse, daß eine idealische Republik nur für idealische Menschen passe, und, um so frey in der Luft schweben zu können, an den Fußschemel von Jupiters Thron angehängt werden müsse. Denn freylich, wenn die Götter das Beste dabey thun wollten, könnte auch die Aristofanische Nefelokokkygia so gut existieren als die Platonische Republik.


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