Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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XVII.
An Antisthenes zu Athen.

Wie ich höre, wird die unvermuthete Verlängerung meines Aufenthalts zu Ägina von meinen Freunden in Athen nicht gebilliget. Man erwartete, daß ich mit Eurybates, den ich dahin begleitet hatte, wiederkommen würde, und die Auskunft, die er über die Ursache meines Zurückbleibens gab, wiewohl ich nicht zweifle, daß sie mit der Wahrheit übereinstimmt, scheint seiner Absicht, mich dadurch zu rechtfertigen, nicht entsprochen zu haben. Du hast, wie ich hoffe, nicht vergessen, Antisthenes, daß die Strenge deiner Grundsätze das Zutrauen, das du mir schon in der ersten Stunde unsres Zusammentreffens zu Olympia einflößtest, seit dieser Zeit so wenig vermindern konnte, daß sie vielmehr der Grund ist, warum ich mich immer, vor allen andern Freunden des ehrwürdigen Sokrates, vorzüglich an dich angeschlossen habe. Ich weiß sehr wohl, daß meine Jugend und eine gewisse mir angeborne Sorglosigkeit, die ziemlich nahe an Leichtsinn grenzen mag, zuweilen der Zucht eines strengen Freundes bedarf: indessen, wie bescheiden einer auch von sich selbst denkt, kann es ihm doch nicht gleichgültig seyn, wenn sein Karakter (vorausgesetzt er habe einen) von denen verkannt wird, mit welchen er am meisten umgeht; und ich gestehe gern, daß die Gerechtigkeit, die du mir wiederfahren lässest, indem du nicht verlangst, daß ich etwas anders als das Beste, wozu mich die individuelle Form meiner Natur fähig macht, in meinem Leben darstelle, im Grunde die wahre Ursache meiner Anhänglichkeit an dich ist, und daß die Strenge deiner Moral mich längst von dir entfernt hätte, wenn sie nicht durch eine billige Schätzung meines wirklichen Werths gemildert würde.

Ich weiß nicht, warum unser Meister, den ich (wie du mir bezeugen kannst) höchlich ehre und liebe, für gut befunden hat, mich immer in einer gewissen Entfernung von sich zu halten. Hat mir etwa sein Dämonion einen schlimmen Streich bey ihm gespielt? oder entdeckte sein Scharfblick einige Ähnlichkeit zwischen mir und einem seiner ehmahligen Lieblinge, von welchem er sich in seinen Erwartungen am Ende übel betrogen fand? Oder ist ihm irgend ein Zug in meiner Fysionomie zuwider? Was es auch sey, genug ich fühle mich, ohne meine Schuld, wie mich dünkt, zurück gehalten, so offen gegen ihn zu seyn als ich wünschte, und wende mich daher lieber an dich, um durch deine Vermittlung bey ihm gerechtfertigt zu werden, wenn es mir gelingen sollte, mich zuvor bey dir selbst zu rechtfertigen.

Meine Sokratischen Freunde, oder wie soll ich sie nennen? – scheinen, wenn sie über mich Gericht halten, zu vergessen, daß jeder Mensch, außer dem allgemeinen Maß der Menschheit, noch sein eignes hat, womit er gemessen werden muß, wenn man das, was sich für ihn schickt oder nicht schickt, richtig beurtheilen will. Ich bin weder ein Athener, noch Thebaner, noch Megarer, weder eines Steinmetzen, noch Gerbers, noch Wurstmachers Sohn; sondern ein Cyrener aus einer Familie, die unter ihren Mitbürgern in Ansehen steht und sehr begütert ist. Ich bin, diesen Umständen gemäß, nach Cyrenischer Weise erzogen worden; und es wäre daher nicht ganz billig, eben dieselben Anlagen und Gewohnheiten in Rücksicht auf manche Dinge, die zum menschlichen Leben gehören, von mir zu fordern, als von einem in Dürftigkeit und Schmutz aufgewachsenen und an Entbehrungen aller Art gewöhnten Jüngling. Indessen habe ich zu Athen Jahre und Tage lang gezeigt, daß ich eben so gut von zwey oder drey Obolen des Tags leben kann als ein anderer; nur sehe ich nicht, warum ich überall und immer so leben soll, oder warum ein kurzer Kaputrock ohne Unterkleid für das einzige und ausschließliche Kostum der Filosofie gelten müßte. Ich achte mich bey Linsenbrey und Salzfisch für keinen bessern, und bey einer Mahlzeit für achtzig oder hundert Drachmen für keinen schlechtern Menschen als ich sonst bin; und wenn ich es dahin bringe, daß ich auf jede Weise leben kann, im Überfluß ohne Übermuth und Ausschweifung, in Einschränkung auf das Unentbehrlichste ohne Störung meiner guten Laune oder Abwürdigung meines Karakters, so denke ich, alles, was ein vernünftiger Mensch in diesem Stücke von sich selbst fordern kann, erreicht zu haben. – Doch dieß ist nicht der Hauptpunkt. Die große Frage ist: Was für einen Zweck habe ich mir überhaupt für mein künftiges Leben vorgesteckt? und hier ist meine Antwort. Ich bin ein freygeborner Mensch, und, trotz unserm barbarischen Völkerrecht, als ein solcher sollte jeder Mensch betrachtet und behandelt werden. Daß ich ein gebornen Bürger in Cyrene bin, macht mich nicht zum Sklaven von Cyrene; ich bin auch als Bürger der allgemeinen menschlichen Gesellschaft geboren, und in dieser großen Kosmopolis ist Cyrene nur ein einzelnes Haus. Da mir der Zufall Vermögen genug für meine Bedürfnisse zugeworfen hat, warum sollt' ich dieß nicht als eine Erlaubniß ansehen, in Erwählung einer Lebensart und Beschäftigung bloß meinem innern Naturtriebe zu folgen? In meinen Augen ist es noch mehr als Erlaubniß; es ist ein Wink, ein Gebot des Schicksals, mich zu der edelsten Lebensart zu bestimmen; und die edelste, für mich wenigstens, (denn von mir ist jetzt bloß die Rede) ist nach meiner Überzeugung, als Weltbürger zu leben, das heißt, ohne Einschränkung auf irgend eine besondere Gesellschaft, mich den Menschen bloß als Mensch so gefällig und nützlich zu machen als mir möglich ist. In dieser Gesinnung und mit diesem Zweck ging ich aus Cyrene in die weite Welt, um vor allen Dingen die Menschen kennen zu lernen, unter denen ich leben will, und mir so viele Kenntnisse und Geschicklichkeiten zu meinem und ihrem Nutzen und Vergnügen zu erwerben, als Fähigkeit, Zeit und Umstände nur immer gestatten werden. Der Ruf des weisen Sokrates zog mich zuerst nach Athen; aber wahrlich nicht in der Meinung, mich einer Schule oder Sekte zu verpflichten, oder einem einzelnen Menschen mehr Recht und Macht über mich einzuräumen, als ich ihm entweder freywillig zu überlassen geneigt, oder jedem andern zuzugestehen schuldig bin. Ich kam als ein schon ziemlich gebildeter und keineswegs unwissender Jüngling nach Athen, und machte mir die Erlaubniß, welche Sokrates allen gutartigen und lehrbegierigen jungen Leuten giebt, ihn zu besuchen und um ihn zu seyn, so viel zu Nutze, als mir zu der Absicht, weiser und klüger in seinem Umgange zu werden, nöthig schien; ohne darum andern nützlichen und angenehmen Verhältnissen auszuweichen, in welche ein junger Fremdling meiner Art in einer Stadt wie Athen zu kommen so viele Gelegenheit findet. Nach einem zweyjährigen ununterbrochnen Aufenthalt in dieser ehmahligen Hauptstadt der gesitteten Welt, lockt mich das Bedürfniß einer kleinen Veränderung nach Ägina. Zufälliger Weise treffe ich da eine junge Frau an, mit welcher ich schon vor zwey Jahren zu Korinth bekannt geworden war; eine Frau, deren geringster Vorzug ist, daß Griechenland nie eine schönere gesehen hat. Sie ist die nächste Nachbarin des Landhauses, wo ich wohne. Sie versammelt öfters auserlesene Gesellschaft in dem ihrigen, und sie selbst ist die unterhaltendste Gesellschaft, die sich ein Mann, und wenn er Sokrates selbst wäre, nur immer wünschen könnte. Wir finden Geschmack an einander, wir sehen uns öfters, wir werden Freunde. Wohlgebrauchte Zeit fliegt schnell dahin. Eurybates, von dringenden Geschäften gerufen, geht nach Athen zurück; Aristipp, der keine dringenden Geschäfte hat, bleibt zu Ägina. Was ist in diesem allen anstößiges? oder Aristipps, Aritadessohns von Cyrene und Gesellschafters des weisen Sokrates, unwürdiges? – »Aber diese schöne Dame, die so viel Geschmack an dir gefunden hat, und für deren Freund du dich erklärst, ist eine Hetäre.« Nun ja, wie Korinne, wie Saffo, wie Aspasia von Milet, bevor Perikles sie zu seiner Gemahlin machte, eine Hetäre war; eine Gesellschafterin (das ist doch die Bedeutung des Wortes?) mit welcher euer Solon selbst, der Erfinder des Nahmens, den Rest seines Lebens mit Freuden ausgelebt hätte. Was kümmern mich euere Nahmen? Für mich ist sie das, wozu Natur und Ausbildung, und die verschwenderische Gunst aller Musen und Grazien sie gemacht haben. Ihresgleichen wird selbst in dem schönen Lande, wo sie das Licht zuerst erblickte, nur alle tausend Jahre geboren. Und ich, dessen einziges Geschäft ist, die Menschen und sich selbst in allen Verhältnissen, die er zu ihnen und sie zu ihm haben können, zu studieren, ich sollte eine solche Gelegenheit nicht benutzen? Entschuldiget mich, lieben Freunde, wenn ich dießmahl vielmehr meinem Genius folge, als euerm Urtheil oder Vorurtheil! Es wird vermuthlich nicht das letzte Mahl seyn. – Vor der Gefahr, daß mich diese Circe unauflöslich an sich fesseln, oder gar in – einen Gefährten des Ulysses verwandeln werde, seyd ohne Sorgen. In drey Tagen geht die schöne Lais nach Korinth zurück, und Aristipp tritt seine Reise nach den Cykladen an.


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