Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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Wie ich höre ist ihm die Strenge, womit er vornehmlich den Homer und Hesiodus für wahre Verführer und Verderber der Jugend erklärt, und die tiefe Verachtung, womit er von der mimischen Kunst der dramatischen Dichter und Schauspieler spricht, zu Athen sehr übel genommen worden. Ich kann es euch nicht sehr verargen, daß ihr euch für eine euerer vorzüglichsten Lieblings-Ergetzungen und für dramatische Meisterstücke, auf die ihr stolz zu seyn alle Ursache habt, mit Faust und Fersen wehrt. Aber zwey Dinge, lieber Eurybates, wirst du doch bey ruhiger Überlegung nicht in Abrede seyn können: erstens, daß Plato in dem ziemlich alten Gebrauch der meisten Griechischen Völkerschaften, ihre Kinder die Gesänge Homers und Hesiods als heilige, von den Musen eingegebene Bücher ansehen zu lehren, und ihnen aus diesen, mit rohen pöbelhaften Begriffen und Gesinnungen, abgeschmackten Mährchen, und zum Theil sehr unsittlichen Reden und Thaten der Götter und Göttersöhne angefüllten alten Volksgesängen, in einem Alter wo das Gemüth für solche Eindrücke weiches Wachs ist, die erste Bildung zu geben, daß, sage ich, Plato in diesem Gebrauch eine der allgemeinsten und wirksamsten, wiewohl bisher unbemerkt gebliebenen, Ursachen der eben so ungeheuren als unheilbaren Sittenverderbniß unsrer Republiken aufgedeckt hat; zweytens, daß es dessen ungeachtet, bey der Verbannung unsrer sämmtlichen Musenkünstler aus seiner idealischen Republik, seine Meinung nicht war noch seyn konnte, daß die Athener und die übrigen Griechen eben dasselbe thun sollten. Bey uns und an uns ist nichts mehr zu verderben; wir sind wie Menschen die in einer schlechten Luft zu leben gewohnt sind; unsre Dichter, Schauspieler, Musiker, Tänzer und Tänzerinnen, Mahler und Bildner mögen es treiben wie sie wollen, in Republiken wie Athen, Korinth, Milet, Syrakus und so viele andere (meine ziemlich üppige Cyrene nicht ausgenommen) können sie nichts Böses thun, dem nicht auf diese oder jene Weise das Gift entweder benommen oder durch einwickelnde und mildernde Arzneymittel Einhalt gethan würde. In Athen oder Milet ist wenig daran gelegen, ob die Leier drey oder vier Saiten mehr oder weniger hat. Aber in einem Staat, dessen Verfassung und Gesetzgebung auf rein sittliche Grundsätze gebaut wäre, und wo also die ganze Lebensweise der Bürger, alle ihre Beschäftigungen und Vergnügungen, ihre gottesdienstlichen Gebräuche, Feste und gemeinschaftliche Ergetzlichkeiten, vor allem aber die Erziehung ihrer Jugend mit jenen Grundsätzen in der richtigsten Harmonie stehen müßten: da würde allerdings die kleinste Abweichung vom Gesetz und vom guten alten Brauch, auch in Sprache, Deklamazion, Rhythmus, Gesangweisen, Tonfällen, Zahl der Saiten auf der Leier und Cither, und dergleichen, wo nicht ganz so viel als Plato meint, doch sehr viel zu bedeuten haben; und wenn die Spartaner, die vor dreyßig Jahren ein so strenges Dekret gegen die eilfsaitige Lyra des berühmten Sängers Timotheus ergehen ließenDer Timotheus, von welchem hier die Rede ist, war einer der berühmtesten Tonkünstler und musikalischen Dichter der Zeit, in welcher die sämmtlichen in diesen Briefen vorkommenden Personen gelebt haben. Er wurde, zum Dank daß er den Gesang und die Saitenmusik seiner Zeit (nach unsrer gewöhnlichen Vorstellung) zu einer weit höhern Vollkommenheit gebracht als worin er beide gefunden, von den strengern Anhängern der alten, äußerst einfachen, an wenige Formen gebundenen, feierlich ernsten Musik für einen ihrer größten Verderber erklärt, und unter andern von dem komischen Dichter Ferecydes, seinem Zeitgenossen, in einem von Plutarch aufbehaltenen beträchtlichen Bruchstück seines Chirons, sehr übel mitgenommen. Indessen war nicht er, wie spätere Kompilatoren sagen, sondern (laut des besagten Fragments) ein gewisser Melanippides derjenige, der die Saitenzahl der Lyra, welche schon sein Meister Frynis, zum größten Ärgerniß der Eiferer für die gute alte Sitte (S. die Anklagsrede des dikaios Logos in den Wolken des Aristofanes) bis auf sieben gebracht hatte, noch mit fünf neuen vermehrte. Wie dem aber seyn mochte, genug Timotheus war, wie es scheint, der erste, der mit einer eilf- oder zwölfsaitigen Magadis (einer Art von Cither, auf deren Saiten ohne Plektron mit den bloßen Fingern geklimpert wurde) zu Sparta erschien, und sich unter andern mit einem dithyrambischen Gesang über die bekannte Fabel von Jupiter und Semele öffentlich hören ließ. Aber die Spartanische Regierung nahm diese sittenverderbliche Neuerung (wiewohl damahls wenig mehr an ihren Sitten zu verderben war) so übel, daß sie ein Dekret (welches uns Boëthius in seinem Buche de Musica aufbehalten hat) abfaßte, des Inhalts: demnach ein gewisser Timotheus (oder Timotheor, wie man in Sparta zu sprechen pflegte) von Milet in ihrer Stadt angekommen, und durch sein Spiel öffentlich bewiesen habe, daß er die alte Musik und die alte Lyra verachte, indem er die Zahl der Töne und der Saiten über alle Gebühr vermehrt, der alten einfachen Art zu singen, eine viel zusammen gesetztere Chromatische untergeschoben, auch in seinem Gedicht über die Niederkunft der Semele die geziemende AnständigkeitNehmlich durch das fürchterliche Geschrey, welches er die in des Donnerers allzufeuriger Umarmung sich verzehrende und vor Angst und Schmerz zu früh von dem jungen Bacchus entbundene Semele erheben ließ; wie aus einer Stelle im Athenäus, B. VIII. Kap. 5. erhellet; denn eine andere Art von Unziemlichkeit ist hier nicht zu vermuthen. gröblich verletzt habe: als hätten die Könige und Eforen, in Erwägung daß solche Neuerungen nicht anders als den guten Sitten sehr nachtheilig seyn könnten, und zu Verhütung der davon zu besorgenden Folgen, besagtem Timotheor einen öffentlichen Verweis gegeben, und befohlen daß seine Lyra auf sieben Saiten zurück gesetzt und die übrigen ausgerissen werden sollen. – Daß Athenäus (im 10. Kap. des XIV. B.) diese Anekdote nach andern Autoren anders erzählt, beweiset eben so wenig gegen sie, als das Ansehen des edeln und für sein Zeitalter gelehrten Boëthius die Ächtheit des Dekrets, nach Verfluß von tausend Jahren, verbürgen kann. Ich kenne nicht eine einzige Griechische Anekdote dieser Art, die nicht von Andern anders erzählt würde. Gewiß ist indessen, daß das Dekret ganz im Geiste der Spartanischen Aristokratie, die in allem streng über den alten Formen hielt, und ihrem Geschmack in der Musik gemäß, abgefaßt ist. dem Geist der Gesetzgebung ihres Lykurgs in allen andern Stücken so getreu geblieben wären, so würden sie, anstatt sich den Athenern dadurch lächerlich zu machen, den Beyfall aller Verständigen davon getragen haben.

Daß Plato durch seine auf die strengste Moral gebaute Theorie der Musischen und Mimischen Künste, wenn man – anstatt ihre unmittelbare Beziehung auf seinen idealischen Staat zum Gesichtspunkt zu nehmen – sie als einen allgemeinen Kanon für Dichter, Mahler, Musiker u. s. f. betrachten wollte, im Grund alle Poesie und die sämmtlichen mit ihr verwandten Künste rein aufhebt; daß seine Einwendungen gegen die künstliche Nachahmung aller Arten von Karaktern, Gemüthsbewegungen, Leidenschaften und Handlungen (sie mögen nun löblich oder tadelhaft, der Nachfolge oder des Abscheues würdig seyn) keine scharfe Untersuchung aushalten; und daß eine Ilias von lauter vollkommen weisen und idealisch tugendhaften Menschen, wie er sie haben will, ein kaltes, langweiliges und wenigstens durch seine Eintönigkeit unausstehliches Werk seyn würde, wer sieht das nicht? Und wie könnt' es anders seyn, da er den Künsten einen falschen Grundsatz unterschiebt und das Sittlichschöne zu ihrem einzigen Gesetz, Zweck und Gegenstand macht? Aber alles, was er behauptet, steht an seinem Platz, so bald wir es in seine Republik versetzen. Seine Jünglinge sollen an Seel und Leib ungeschwächte, unverdorbene Menschen bleiben; sie sollen »nichts lernen was sie künftig wieder vergessen müssen;« sie sollen nichts sehen noch hören, nichts denken noch treiben, als was unmittelbar dazu dient, sie zu ihrer Bestimmung vorzubereiten. Sie sollen von Kindesbeinen an auf alle mögliche Weise zu jeder Tugend gewöhnt werden, und ungeziemende, ungerechte, schändliche Dinge nicht einmahl dem Nahmen nach kennen. Sie sollen von der Gottheit das würdigste und erhabenste denken; sollen angehalten werden immer die Wahrheit zu sagen, und Lügen als die häßlichste Selbstbeschimpfung zu verabscheuen; sollen immer nüchtern, mäßig und enthaltsam seyn, der Wollust und dem Schmerz keine Gewalt über sich lassen, ihren Mitbürgern hold und gewärtig und nur den Feinden des Staats fürchterlich, in Gefahren zugleich vorsichtig und muthvoll, kaltblütig und entschlossen seyn, immer bereit, Leben und Alles ihrer Pflicht aufzuopfern, ohne weder den Tod für sich selbst zu fürchten, noch sich beym Ableben der Ihrigen unmännlich zu betragen. Zu allem diesem wird man freylich (wie Plato seinen Sokrates sehr ausführlich mit Stellen aus der Ilias und Odyssee belegen läßt) durch das Lesen unsrer Dichter und durch die Beyspiele, Maximen und pathetischen Deklamazionen unsrer Tragödien nicht gebildet; wohl aber kann es nicht fehlen, daß sie in jungen Gemüthern Eindrücke und Vorstellungen hinterlassen, die das Gegentheil zu wirken geschickt sind. Nehmen wir also dem Schöpfer einer Republik, die bloß dazu erschaffen ist uns zum Urbild der Gerechtigkeit und sittlichen Vollkommenheit zu dienen, nicht übel, daß er unsre Dichter mit eben so weniger Schonung von ihren Grenzen abhält, als alle andere Künstler und Werkleute des Vergnügens und der Üppigkeit; in einem Staat, der in Ansehung aller körperlichen Bedürfnisse und sinnlichen Genüsse auf das schlechterdings Unentbehrliche eingeschränkt ist, findet sich kein Platz für sie.

Sokrates geht nun in der Erziehung seiner Staatsbeschützer von der Musik als der Bildung der Seele zur Gymnastik oder Ausbildung, Übung und Angewöhnung des Körpers über. Alles was er über diesen Gegenstand sagt; die scharfe Censur, die er bey dieser Gelegenheit über die Lebensweise der Vornehmen und Reichen zu Syrakus, Korinth und Athen ergehen läßt, alles was er über die Diätetik überhaupt, über die Vorzüge der ächten Äskulapischen Heilkunst von der heut zu Tag im Schwange gehenden, und über die Analogie der Profession des Richters (den er als eine Art von Seelenarzt betrachtet) mit der Kunst des eigentlich so genannten Arztes, vorbringt, – mit Einem Wort die ganze reichhaltige und vielseitige Behandlung dieser Materie ist in jedem Betracht unübertrefflich schön und wahr. Alles darin ist neu, selbst gedacht, scharfsinnig, und doch zugleich so klar einfach und auf den ersten Blick einleuchtend, daß der Leser fast immer seinen eigenen Gedanken zu begegnen glaubt. Ich habe nichts darüber hinzu zu setzen, als daß der göttliche Plato, wenn er immer auf diese Art filosofierte, in der That ein Gott in meinen Augen wäre; und daß, wofern die Athener und wir andern Alle durch Lesung und Meditierung dieses Diskurses nicht weiser und besser werden, die Schuld bloß an uns liegen wird.

Ich zweifle nicht, daß Plato durch den Ausfall über die dermahlige Heilkunst in ein gewaltiges Wespennest gestochen hat. Euere Hippokratischen Ärzte, welche sich den Reichen so unentbehrlich zu machen und von ihrer Üppigkeit und Schwelgerey so viele Vortheile zu ziehen wissen, werden ihm nicht vergeben, daß er ihnen die Geschicklichkeit, einen baufälligen Körper recht lange hinzuhalten und ihre Kranken des langsamsten Todes, der ihrer Kunst möglich ist, sterben zu lassen, d. i. gerade das, worauf sie sich am meisten einbilden, zum Vorwurf, und beynahe zum Verbrechen macht. Natürlicher Weise ist ihre Partey, da alle Schwächlinge, Gichtbrüchige, Engbrüstige, Wassersüchtige und Podagristen von Athen auf ihrer Seite sind, wo nicht die stärkste, doch die zahlreichste; und wie sollten sie ihm je verzeihen können, daß er unmenschlich genug ist, zu behaupten: sie und alle ihres gleichen könnten für die allgemeine Wohlfahrt nichts bessers thun, als sich je bälder je lieber aus der Welt zu trollen; und die Heilkunst mache sich einer schweren Sünde gegen den Staat schuldig, wenn sie sich so viele Mühe gebe, ungesunden Menschen ein sieches, ihnen selbst und andern unnützes Leben auch dann zu verlängern, wenn keine völlige Genesung zu hoffen ist. In der That hat diese Behauptung etwas empörendes; und es mag wohl seyn, daß nur ein sehr gesunder, der Güte seines Temperaments und seiner strengen Lebensordnung vertrauender, auch überdieß außer allen zärtlichern Familienverhältnissen isoliert lebender Filosof so vielen armen Sterblichen, die mit allen ihren Übeln, doch das erfreuliche Licht der Sonne gern so lang' als möglich athmen möchten, ein so unbarmherziges Todesurtheil zu sprechen fähig ist. Ich hoffe Plato selbst werde sich erbitten lassen einige Ausnahmen zu machen; indessen müssen wir auch nicht vergessen, daß alles, was er seinen kerngesunden alten Sokrates über diesen Punkt sagen läßt, mit unverwandter Rücksicht auf seine Republik gesagt wird, wo sich freylich alles anders verhält als in den unsrigen. In den letztern lebt jeder Mensch sich selbst und seiner Familie, dann erst dem Staat; in der seinigen lebt er bloß dem Staat, und so bald er diesem nichts mehr nütze ist, rechnet er sich nicht mehr unter die Lebendigen. Er verhält sich also zum Staat, wie der Leib zur Seele. Die Seele ist der eigentliche Mensch; der Leib hat nur dadurch einigen Werth, und darf nur in so fern in Betrachtung kommen, als er der Seele zum Sklaven und Werkzeug gegeben ist. Es ist daher (wie Sokrates etwas, so er vorhin selbst gesagt hatte, berichtiget) nicht recht gesprochen, wenn man die Musik allein auf die Seele, die Gymnastik allein auf den Leib bezieht. Beide dienen bloß der Seele, und die Gymnastik findet in seiner Republik nur in so fern Platz, als sie den Körper zu einem rein gestimmten, diese Stimmung festhaltenden, und mit einer von den Musen gebildeten Seele immer rein zusammen klingenden Instrument derselben macht. Eben darum wäre sehr übel gethan, die Gymnastik von der Musik oder diese von jener trennen zu wollen; die Musik allein würde nur weibische Schwächlinge, die Gymnastik allein sogar aus Knaben von der edelsten Art nur rohe gewaltthätige Halbmenschen ziehen: aber so, wie Plato es vorschreibt, verbunden und eine durch die andere getempert, bilden sie »den ächten Musiker und Harmonisten, der beide Benennungen in einem unendlich höhern Grad verdient als der größte Saitenspieler.«


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