Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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VII.
An Ebendenselben.

Ich finde je länger je mehr, wie falsch der Begriff ist, den man sich im Auslande von Sokrates macht, indem man ihn für einen Filosofen oder Sofisten von Profession und das Haupt einer eigenen Schule hält. Er ist, wiewohl er vielerley Kenntnisse besitzt, kein eigentlicher Gelehrter, und ob er gleich ein sehr weiser und kluger Mann ist, weder das, was man einen Filosofen, noch was man einen Staatsmann zu nennen pflegt: oder richtiger zu reden, seine Weisheit und Klugheit war es eben, was ihn abhielt sich aus dem einen oder dem andern dieser Qualitäten eine Lebensart zu machen. Er ist ein zu edler und guter Mensch, um ein bloßer Bürger von Athen, und gleichwohl zu sehr Bürger von Athen, um ein echter Weltbürger zu seyn. Man erstaunt, bey einem Manne, der (wenn man ein Paar Feldzüge ausnimmt) nie aus Athen gekommen ist, einen solchen Umfang von Welt- und Menschenkenntniß, einen so hellen, von Vorurtheilen und Wahnbegriffen so gereinigten Verstand, und einen so feinen Sinn für die rechte Art mit allen Gattungen von Menschen umzugehen, zu finden; und doch däucht mich (wenn ich dieß ohne Schein eines thörichten Dünkels gestehen darf) ich sehe zuweilen eine gewisse Beschränktheit in seiner Vorstellungsart, die mir bloß daher zu kommen scheint, daß er sich unvermerkt angewöhnt hat, Athen, den Mittelpunkt seiner eigenen Thätigkeit, für den Mittelpunkt der Welt, und was außer Athen ist, keiner sonderlichen Aufmerksamkeit werth zu halten. Ob ich mich hierin irre, darüber werde ich vielleicht in der Folge Gelegenheit finden, dich selbst zum Richter zu machen.

Um mir beym Erforschen dieses in seiner Art so ganz einzigen Mannes viel Zeit und manchen Fehlschluß zu ersparen, habe ich mir Mühe gegeben, über seine Lebensgeschichte so viele und so zuverlässige Erkundigungen einzuziehen als mir nur immer möglich war.

Sein Vater Sofroniskus war ein Steinmetz, und seine Mutter Fänarete die geschickteste und ihres Karakters wegen geschätzteste Hebamme ihrer Zeit in Athen. Er scheint sich auf diese Mutter etwas zu gute zu thun; denn er liebt ihrer bey Gelegenheit öfters zu erwähnen, und soll einst, da ihm über sein Talent junge Leute zu bilden ein Kompliment gemacht wurde, in seiner gewohnten Manier Ernst in Scherz einzukleiden, zur Antwort gegeben haben: Es ist ein Erbstück von meiner Mutter; meine ganze Kunst besteht in einer gewissen Geschicklichkeit die Entbindung schwangerer Seelen zu befördern.Was Aristipp hier sagt, wird durch eine bekannte Stelle im Theätetus des Plato bestätigt. Die Frucht, die ans Tageslicht kommen soll, muß freylich schon lebendig, gesund und wohlgestaltet in der Seele verborgen liegen, und alles was ich bey der Geburt thun kann, ist, ihr leicht und mit guter Art heraus zu helfen. Personen, die seine Ältern gekannt haben, versicherten mich, daß er äußerlich seinem Vater, und dem Gemüth und der Sinnesart nach seiner Mutter sehr ähnlich sey.

Sofroniskus that an seinem Sohne – was er konnte; er gab ihm die gewöhnliche Erziehung aller jungen Athener jener Zeit, die du aus der Scene der beiden Streithähne, Dikäos und Adikos Logos, in den berüchtigten Wolken des Aristofanes kennst. Der junge Sokrates lernte bey einem Schulhalter vom gewöhnlichen Schlage den Homer und Hesiod, wo nicht verstehen, wenigstens fertig lesen; von einem Singmeister auf der Cither klimpern und alte Lieder nach alten Weisen singen; und übte sich übrigens fleißig im Wettlaufen, Ringen und Fechten auf der Palästra. Der Vater, um seiner Pflicht (nach einem bekannten Gesetze Solons) volle Genüge zu thun, lehrte ihn seine eigene Kunst; die Mutter, welche bey Zeiten merkte, an diesem Sohn etwas mehr als einen künftigen Steinhauer geboren zu haben, wollte wenigstens einen Bildhauer aus ihm werden sehen; und so wurde er, ich weiß nicht welchem damahligen Meister dieser Kunst, in die Lehre gegeben. Es scheint nicht, daß er selbst eine besondere Anlage oder Neigung zu ihr in sich gefühlt habe; indessen bracht' er es doch darin auf einen gewissen Grad; machte bis über sein dreyßigstes Jahr seine hauptsächlichste Beschäftigung daraus, und fertigte binnen dieser Zeit unter andern Arbeiten verschiedene Statuen, wovon die meisten in einem Landhause seines Freundes Kriton zu sehen sind, der sich viele Mühe gegeben hat, so viele derselben zusammen zu bringen, als für Geld zu haben waren. Ich habe sie gesehen, und da ich auch die Werke des Polyklet und Fidias gesehen habe, so darf ich dir ohne Scheu bekennen, daß Sokrates, dessen wahre Bestimmung war, der weiseste und beste unter den Weisen und Guten seiner Zeit zu seyn, schwerlich weder der erste, noch der zweyte, noch der dritte unter den Bildhauern seiner Zeit geworden wäre. Indessen zeichnet sich doch unter seinen Versuchen in der Kunst eine Gruppe der Grazien aus, an welcher er wirklich mit Liebe und unter dem Einfluß der holdseligen Töchter Jupiters gearbeitet zu haben scheint; man sieht, daß ihm Pindars σεμναι Χαριτες, παντων ταμιαι εργων εν ουρανω wirklich erschienen, und daß er im Bestreben, die Ideale, die seiner Seele vorschwebten, im Marmor festzuhalten, vielleicht noch mehr geleistet hätte, wenn er weniger hätte leisten wollen. Denn das einzige, was an diesen Grazien auszusetzen ist, und was jedem der sie sieht auffällt, ist, daß sie gar zu ehrwürdig sind.

Dem besagten Kriton hat es Griechenland zu danken, daß es sich unter seinen Heroen aller Art auch eines Sokrates rühmen kann; ohne ihn wäre dieser wahrscheinlich Bildhauer geblieben, und die reinste sittliche Gestalt, in welcher die Humanität je der Welt persönlich im wirklichen Leben sichtbar geworden ist, würde wo nicht unenthüllt, doch auf ewig mit dem Schleier der Unbekanntheit und Vergessenheit bedeckt geblieben seyn. Kriton, noch jetzt der erste, so wie der älteste unter den Freunden des Sokrates, dem er an Alter etliche Jahre vorgeht, ist in den Augen aller, die ihn kennen und Menschenwerth zu schätzen wissen, einer der Edelsten, die dieses an vortrefflichen Männern fruchtbare Land seit Deukalion und Pyrrha hervorgebracht hat. Glücklicher Weise ist er auch einer der wohlhabendsten Athener, und im Gebrauch seines ansehnlichen Vermögens so großmüthig und freygebig als der berühmte Cimon, ja selbst auf eine noch verdienstlichere Weise, da kein Verdacht auf ihn fallen kann, daß ein ehrsüchtiges Streben nach Volksgunst oder irgend eine andere unlautere Absicht den mindesten Einfluß auf seine Freygebigkeit habe. Zufälliger Weise (wie man, vielleicht sehr uneigentlich, zu sagen pflegt) kam er in die Werkstatt des alten Sofroniskus, als der Sohn die erwähnte Graziengruppe eben vollendet hatte. Er betrachtete das Werk und den Werkmeister mit gleicher Aufmerksamkeit, ließ sich mit dem angehenden Künstler in ein Gespräch ein, und beschloß von Stunde an, sich um sein Vertrauen zu bewerben, und wenn er es gewonnen hätte, alles anzuwenden, um ihn mit guter Manier aus der Stein- und Bildhauer-Werkstatt in eine seinen natürlichen Anlagen angemessenere Art von Thätigkeit zu versetzen.

Es befanden sich damahls drey Männer in Athen, deren jeder in dem Fache von Gelehrsamkeit, welches er vorzüglich bearbeitete, für den ersten galt; Anaxagoras von Klazomene, ein Filosof aus der Schule des Thales, der Sofist Prodikus von Ceos und Damon, ein geborner Athener, einer der berühmtesten Tonkünstler seiner Zeit. Der erste hatte das Studium der Natur, wiewohl auf einem falschen Wege, der zweyte die Kunst zu reden, als eines der mächtigsten Werkzeuge, wodurch man in Republiken auf die Menschen wirken kann, der dritte, die Theorie der Musik, in so fern sie eine Art von magischer Gewalt über das Gemüth und die Leidenschaften auszuüben fähig ist, zum Hauptgeschäfte seines Forschens gemacht. Alle drey genossen des Schutzes und der Achtung des großen Perikles; die vornehmsten Athener suchten ihren Umgang, und jedermann schätzte es für ein besondres Glück, wenn er seinem Sohne den Zutritt bey dem erstern, und den Unterricht der beiden andern verschaffen konnte.

Sobald Kriton den Vorsatz gefaßt hatte, sich des jungen Sokrates mit Ernst anzunehmen, war seine erste Sorge, ihn mit diesen drey Männern, mit welchen er selbst auf einem freundschaftlichen Fuße lebte, in Bekanntschaft zu setzen; denn er zweifelte nicht, daß sie stark auf den jungen Mann wirken und gar bald den Gedanken in ihm erwecken würden, die Natur habe ihn zu einer höhern Bestimmung berufen, als in Thon, Holz und Stein zu arbeiten. Verehrern der Kunst, wie du und ich, mag dieß etwas anstößig klingen; aber die meisten Griechen machten sich damahls und noch jetzt einen viel zu geringen Begriff von derselben, und ein Bildhauer war in ihren Augen am Ende doch nichts weiter als ein Handwerksmann, der sein Brot durch mechanische Handarbeit in einer harten Materie sauer und mühselig verdienen müsse. Wahrscheinlich hatte Kriton selbst damahls keinen andern Gedanken, als den jungen Sokrates in eine höhere Klasse hinaufzurücken, und durch Entwicklung und Ausbildung seiner Fähigkeiten in den Stand zu setzen, dereinst eine bedeutende Rolle in der Republik zu spielen. Auch erreichte er seine Absicht, wiewohl in einem ganz andern Sinne, und in der That auf eine weit vollkommnere Art als er sich vorgestellt haben mochte. Der Sohn des Sofroniskus gewann in kurzer Zeit die Zuneigung des gelehrten Triumvirats; sie machten sich ein Vergnügen daraus, ihm Anleitung zu geben und von ihren Kenntnissen so viel mitzutheilen als er davon gebrauchen konnte und wollte. Denn, wiewohl er sich mehrere Jahre lang mit allen Arten der spekulativen Wissenschaften, die von der Ionischen Filosofenschule damahls mit ungemeinem Beyfall betrieben, und von den sogenannten Sofisten nach ihrer eigenen Weise popularisiert wurden, mit vielem Fleiß gelegt haben soll; so scheint er doch ziemlich bald einen Beruf in sich gefühlt zu haben, seinen eigenen Weg zu gehen, und sich sowohl in Meinungen als im Leben unabhängig und frey von fremdem Einfluß zu erhalten. Es war ein Leichtes gewesen, seine Wißbegierde zu erwecken: die sogenannte Fysische Filosofie, von welcher Anaxagoras Profession machte, hatte unendlich viel anziehendes. Denn sie versprach nichts geringeres, als den undurchdringlichen Vorhang, hinter welchem die Natur ihre Mysterien treibt, wegzuziehen, und über die angelegensten Fragen, die der menschliche Geist an sich selbst zu thun sich nicht erwehren kann, befriedigende Aufschlüsse zu geben. Aber sein guter Verstand ließ ihn bey Zeiten wahrnehmen, nicht nur daß sie nicht hielt was sie versprach, sondern auch, daß sie weit mehr versprach als sie halten konnte. Er suchte Wahrheit, und man fertigte ihn mit Hypothesen ab, die man zwar mit vielem Scharfsinn zu möglich scheinenden Auflösungen der Räthsel, die uns die Natur aufzurathen giebt, anzuwenden wußte, die aber keinen festen Halt hatten, und, wenn sie scharf geprüft wurden, weder den Verstand noch die Einbildungskraft befriedigten. Er suchte nützliche Wahrheit, und man wollte, daß er einen großen Werth auf Spekulazionen legen sollte, von welchen nicht der mindeste Gebrauch im menschlichen Leben zu machen war. Alles was er mit den Nachforschungen, die einen guten Theil seiner schönsten Jahre aufzehrten, gewonnen zu haben glaubte, war – und konnte für einen so reinen Wahrheitssinn, wie der seinige, nichts anderes seyn, als »das Bewußtseyn, daß er vom Ursprung der Welt und ihren elementarischen Bestandtheilen, von Materie und Geist, von Raum und Zeit, von den unsichtbaren Kräften, mit deren sichtbaren Wirkungen die Natur uns überall umgiebt, kurz, von den überirdischen und übersinnlichen, himmlischen und überhimmlischen Dingen, gerade so viel wisse als vorher, nehmlich nichts oder wenig mehr als nichts.« – Dieß war ein großer Abfall von den glänzenden Erwartungen, die man ihm vorgespiegelt hatte, und was für ein anderes Resultat konnte aus einer solchen Erfahrung hervorgehen, als die innigste Überzeugung, daß der größte Theil der Probleme, womit die spekulativen Filosofen seiner Zeit sich selbst und ihre Lehrlinge unterhielten, ganz und gar keine Gegenstände des menschlichen Wissens seyen, und daß ein gesunddenkender Mensch in der kurzen Lebenszeit, die ihm von der Natur so kärglich zugemessen wird, mehr als genug zu thun habe, wenn er nur zu einem hinlänglichen Grade von Kenntniß dessen, was allen Menschen zu wissen nöthig und was nicht zu wissen ein großes Übel ist, gelangen wolle. Er schätzte diese Überzeugung um so höher, je mehr Zeit und Mühe sie ihm gekostet hatte, und sie war's was seinem Geiste diese Richtung auf das Sittlichgute und überhaupt auf das Nützliche in allen Dingen gab, die er von dieser Zeit an nie wieder aus dem Auge verlor. Indessen fuhr er noch immer fort, die Bildhauerkunst nebenher zu treiben, in so fern sie ihm zu Gewinnung seines nothdürftigen Unterhalts unentbehrlich war. Denn es währte ziemlich lange, bis der edle Kriton so viel über ihn vermochte, daß er, um sich aller mechanischen Arbeiten entschlagen zu können, diesem mit ganzer Seele an ihm hangenden Freunde gestattete dafür zu sorgen, daß es ihm für sein übriges Leben nie am Nothwendigen fehlen könne. Auch scheint dieß nicht eher geschehen zu seyn, als nachdem Sokrates in der Kenntniß seiner Selbst so weit gekommen war, daß er seinen innern Beruf, ein Menschenbildner in einem ganz andern und unendlich höhern Sinne zu seyn, nicht länger bezweifeln konnte.


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