Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Wenn wir aber auch über das unnatürliche dieser Umstände hinaus gehen, und mit der grenzenlosen Gefälligkeit, welche Plato immer bey seinen Zuhörern voraus setzt, annehmen wollen, daß eben diese (uns unbekannten) Richter, welche die Seele des Armeniers nach zwölf Tagen in ihren Leib zurück schicken können, es auch in ihrer Macht haben, einen tödtlich verwundeten und entseelten Leichnam durch ein unbegreifliches Wunderwerk zwölf Tage lang frisch und gesund zu erhalten – sollten wohl die Fieberträume, die uns der Armenier als Nachrichten aus der andern Welt erzählt, eines so großen Wunders würdig seyn? Ich habe wohl auch in meinem Leben Milesische Mährchen gehört, und unter unsern alten Götter- und Helden-Mythen ist mancher ammenhaft genug; aber ein so idealisch ungereimtes Fantasiegebilde, wie dieses, ist mir noch nicht vorgekommen. Man fordert mit Recht von einem Dichter, daß er auf jede Frage, warum er dieß und das an seinem Werke gerade so und nicht anders gemacht, eine hinlängliche Antwort bereit habe. Ich möchte wohl wissen, was der Platonische Sokrates zu antworten hätte, wenn ihn Glaukon oder Thrasymachus in aller Demuth fragten: was ein gewisser dämonischer Ort für ein Ort sey? Nach welcher Regel der Gerechtigkeit die Seelen der Lasterhaften für jede Übelthat zehenfältig gestraft werden? Warum die Seelen, die vom Himmel herunter, oder, nach ausgestandener Strafe aus der Hölle herauf gestiegen sind, um wieder in sterbliche Leiber zurück zu kehren, sich gerade sieben Tage auf der Wiese, die er vorhin einen dämonischen Ort nannte, aufhalten? Warum sie gerade vier Tage zu marschieren haben, bis sie den großen Lichtring oder Lichtgürtel zu Gesicht bekommen, der dem Regenbogen ähnlich aber viel glänzender und reiner ist? Wie dieser Lichtring zugleich zwischen Himmel und Erde aufgerichtet stehen, über Himmel und Erde ausgebreitet seyn, und den ganzen Himmel wie ein Gürtel umfassen kann? Warum die Seelen gerade noch einen Tag zu reisen haben, bis sie bey diesem Licht angelangt sind? Woran die Enden dieses den Himmel zusammen haltenden Lichtgürtels befestigt sind, damit die Spindel der Anangke an ihnen hangen kann? Warum Anangke ihre Spindel, gegen die Gewohnheit aller andern Spinnerinnen, zwischen ihren Knieen herumdreht? und zwanzig andere Fragen, deren der Leser sich nicht erwehren kann, ohne die Antwort darauf zu finden. Plato ist, wie wir lange wissen, ein Liebhaber vom Übernatürlichen, Unerhörten, Kolossalischen; wir wollen ihn dieses Geschmacks wegen nicht anfechten; aber die Bilder, die er uns darstellt, müssen doch Sinn, Bestandheit und Zusammenhang wenigstens an und unter sich selbst haben, und er muß unsrer Einbildungskraft nicht mehr zumuthen als sie leisten kann. Versuch es ein Mahl, dir die ganze Gruppe von Erscheinungen, die der Armenier in dem Lichtgürtel des Himmels gesehen haben will, in Einem Gemählde vor die Augen zu bringen. – In der Mitte die große Göttin Anangke mit der ungeheuren stählernen Spindel zwischen den Knieen; um die Spindel einen nicht minder ungeheuren Wirtel, in welchem sieben andere, wie die Büchsen der Taschenspieler, in einander stecken, und alle zugleich, aber mit ungleicher Geschwindigkeit, von der Spindel in einer, ihrer eigenen Bewegung entgegen gesetzten, Richtung herumgedreht werden; – jeden dieser an Glanz, Farbe und Bewegung verschiedenen Wirtel mit einem mehr oder minder breiten zirkelförmigen Rand, und auf jedem eine Sirene sitzend, die sich mit ihm herumdreht und aus voller Kehle singt; aber jede nur einen einzigen Ton aus der Tonleiter bis zur Oktave, so daß der Gesang aller acht Sirenen eine einzige sich selbst immer gleiche Harmonie ist – vor welcher die Götter unsre Ohren bewahren wollen! – Nun denke dir noch die Töchter der Anangke, die drey Moiren, Lachesis, Klotho und Atropos, weiß gekleidet und mit Kränzen um die Stirne auf Lehnstühlen um ihre Mutter herum sitzend, wie sie, vom achttönigen Zetergeschrey der Sirenen begleitet, Lachesis das Vergangene, Klotho das Gegenwärtige, Atropos das Zukünftige absingen, während dessen Klotho ihrer Mutter mit der rechten Hand von Zeit zu Zeit den äußersten Wirtel der Spindel, Atropos mit der linken die innern, und Lachesis alle zusammen mit beiden Händen umdrehen hilft. Laß deine Fantasie, wenn's ihr möglich ist, ein Gemählde aus diesem allen zusammen setzen, und sage mir, ob einem Kranken im stärksten Fieberanfall etwas abenteuerlicheres und fantastischeres vorkommen könnte? Und was will nun Plato daß wir uns bey diesem lächerlich wunderbaren Fantasma denken sollen? Ist das alles in der dämonischen Welt wirklich so, wie sein Armenier gesehen zu haben vorgiebt? Er rechnet so wenig darauf, daß irgend einer seiner Leser einfältig genug seyn werde dieß zu glauben, daß sein Sokrates selbst die ganze Erzählung am Ende für ein bloßes Mährchen giebt. Alle diese Wundergestalten, Anangke mit ihrer Spindel und ihren Töchtern, die acht Sirenen, die sich auf und mit den acht Wirteln ewig herumdrehen und den armen Seelen, die hier täglich schaarenweis sich einzufinden genöthigt sind, die Ohren gellen machen, der Profet, der den Seelen im Nahmen der Göttin ankündigt, daß sie um ihr künftiges Schicksal im Leben, in welches sie zurück kehren, loosen müssen, u. s. w., das Alles ist also nichts weiter als eine Gruppe von emblematischen Bildern, oder vielmehr ein Haufen ziemlich dicker Hüllen, unter denen etwas verborgen liegt, das entweder schwer zu errathen, oder des Rathens kaum werth ist? Aber unglücklicher Weise ist der Armenier, der diese wunderbaren Personen und Sachen in einem dämonischen Ort zu sehen glaubt, keine emblematische Figur; er wird uns als eine wirkliche historische Person vorgeführt, und damit wir desto weniger daran zweifeln, sogar Pamfylien als das ursprüngliche Vaterland seines Geschlechts angegeben. Der wackre Er macht sich also entweder nach Art weit gereiseter Leute ein Vergnügen daraus, unsre Leichtgläubigkeit auf die Probe zu stellen; oder er ist selbst ich weiß nicht von welchen Dämonen getäuscht worden, daß er sich einbildete wirkliche Dinge zu sehen, wiewohl er nur Sinnbilder sah. Übrigens ist nicht leicht zu errathen, was Plato mit dieser Dichtung beabsichtigt, da sie für den Satz, den er dadurch bestätigen will, nicht das Geringste beweisen, und schlechterdings zu nichts dienen kann, als Knaben in Erstaunen zu setzen, Männern hingegen eine eben so geringe Meinung von seinem Dichtergeist als von seinen astronomischen Kenntnissen zu geben. Denn wie er dichtet, heißt nicht dichten sondern ins Blaue hinein fantasieren, und es steht ihm wahrlich übel an, über die Erzählungen, womit der Homerische Odysseus die Tischgesellschaft des Alcinous unterhält, die Nase zu rümpfen, von denen die ungereimteste ohne Vergleichung wahrscheinlicher gemacht ist als das Mährchen seines Armeniers. Aber nun vollends die Art, wie er die Pythagorische Seelenwanderung seinen eigenen Hypothesen anpaßt, und wie er die Freyheit, ohne welche keine Zurechnung, folglich keine Strafen und Belohnungen in der andern Welt Statt finden, mit den Gesetzen der Nothwendigkeit zu vereinigen glaubt! – Die zur Rückkehr in sterbliche Leiber vor dem Thron der großen Spinnerinnen versammelten Seelen kommen theils aus dem Himmel, theils aus der Unterwelt. Über die letztern habe ich nichts zu erinnern; aber wie die Göttin Anangke den erstern zumuthen könne, aus der reinen Himmelsluft wieder in den mefitischen Dunstkreis des Erdenlebens zurück zu wandern, darüber hätte uns billig einiger Aufschluß gegeben werden sollen. Denn daß sie den Himmel, wo es ihnen (ihrer eigenen Versicherung nach) so unaussprechlich wohl ging, von freyen Stücken verlassen haben sollten, ist nicht zu vermuthen; wiewohl ich gestehe, daß das Vergnügen, womit er sie den Boden der mütterlichen Erde wieder betreten läßt, ein feiner Zug von dem Dichter ist. Soll überhaupt Sinn in dieser Dichtung seyn, so müßte entweder eine innere Nothwendigkeit die Seelen aus dem Himmel wieder auf die Erde treiben, oder ihre Verbannung müßte die Strafe schwerer Verbrechen seyn, welche sie in jenem herrlichen Zustand begangen hätten. Keine dieser beiden Voraussetzungen steht auf irgend einem festen Grunde, und die letztere ist sogar mit der Gerechtigkeit der allgemeinen Weltregierung unvereinbar; denn was könnte ungerechter seyn, als die armen Seelen zu Abbüßung begangener Verbrechen in Umstände zu setzen, wo sie die größte Gefahr laufen neue Verbrechen zu begehen, welche sie mit einer noch viel härtern Bestrafung, nehmlich einer tausendjährigen Peinigung im Tartarus für jedes derselben, werden büßen müssen? Plato glaubt zwar, sich aus dieser Schwierigkeit durch die Erklärung zu ziehen, die er seinen Profeten im Nahmen der Lachesis (warum gerade dieser?) den versammelten Seelen thun läßt. »Ihr seyd im Begriff, läßt er ihn (wiewohl in geflissentlich dunkeln und nach Art der Orakel, vieldeutigen Ausdrücken) sagen, einen neuen Kreislauf unter den Sterblichen zu beginnen. Nicht das Schicksal wird euch euer Loos anweisen, sondern ihr selbst werdet euer Schicksal wählen. Wen das Loos zum Ersten erklärt, der soll auch zuerst die Wahl der Lebensart haben, an welche er nothwendig gebunden bleiben wird. Die Tugend aber hat keinen Herren über sich; je nachdem jemand sie ehrt oder verachtet, wird er mehr oder weniger von ihr besitzen. Die Schuld wird an dem Wählenden seyn; Gott hat keine Schuld.« – Nach dieser seltsamen Anrede wirft er die Loose auf die umherstehenden Seelen herab; jede greift nach dem, das ihr zufällt, und itzt zeigt sichs in welcher Ordnung sie wählen sollen. Nunmehr werden Muster aller möglichen Lebensformen, thierischer und menschlicher, die im Schooß der Lachesis beysammen lagen, auf der Erde vor ihnen ausgebreitet, damit jede diejenige wähle, die ihr am besten ansteht. Die Anzahl dieser Lebensformen ist zwar viel größer als die Zahl der Wählenden; indessen gesteht doch der Erzähler, daß die Seelen, die in der Reihe die letzten sind, gegen die andern sehr zu kurz kommen und mit dem was noch da ist vorlieb nehmen müssen; eine Unbilligkeit, welche vermieden werden konnte, wenn, anstatt die Wahl theils auf sie selbst theils auf den Zufall ankommen zu lassen, ein Gott für jede gewählt hätte, was für sie und andere das Beste gewesen wäre. Was diese Unbilligkeit noch härter macht, ist das Gesetz, vermöge dessen alle diese aus dem Himmel und der Hölle ins irdische Leben zurück kehrenden Seelen aus dem Lethe zu trinken genöthigt sind, dessen Wasser die Eigenschaft hat die Erinnerung des Vergangenen in der Seele auszulöschen. Natürlicher Weise gehen dadurch alle Vortheile verloren, welche sie aus der Erinnerung der ausgestandenen Strafen oder der genoßnen Seligkeit, und aus dem Bewußtseyn dessen, womit sie das eine oder das andere in ihrem vormahligen Leben verdient hatten, zum Behuf des neu angehenden hätten ziehen können. Das Übel würde zwar, wie er zu verstehen giebt, nicht so groß seyn, wenn sie (was nur bey Wenigen der Fall zu seyn scheint) weise genug wären, nicht über ein gewisses Maß zu trinken: aber da die meisten viel Durst zu haben scheinen, und daher nicht leicht das rechte Maß treffen, würde es nicht billig und freundlich gewesen seyn, ihnen das Wasser der Vergessenheit in einem Becher zu reichen, der gerade nicht mehr und nicht weniger gehalten hätte als ihnen zuträglich war? So schlecht durch diese Dichtung die Weisheit und Güte des obersten Weltregierers gerechtfertiget ist, so wenig scheint sie uns auch über die Freyheit der Seele, in so fern sie neben der Nothwendigkeit bestehen kann, ins Klare zu setzen. Die Seelen wählen zwar die Bedingungen, unter welchen sie ihr neues Erdenleben antreten wollen, nach Belieben; aber diese Freyheit ist den meisten mehr nachtheilig als vortheilhaft, und scheint mehr ein Fallstrick als eine Wohlthat zu seyn. Der Armenier sah z. B. wie eine Seele (und es war sogar eine aus dem Himmel wiederkehrende) mit unbegreiflicher Hastigkeit nach einer Tyrannie griff, auf welche, wenn sie sich nur ein wenig Zeit genommen hätte sie recht anzusehen, ihre Wahl unmöglich hätte fallen können. Dieser Fall muß sehr oft vorkommen, da es den Seelen, wie es scheint, theils an genugsamer Bedenkzeit, theils an Einsicht und Unterscheidungskraft fehlt; überdieß gesteht der Dichter selbst, daß sehr viel dabey auf den Zufall ankomme, und daß die Letzten wenig oder keine Wahl mehr haben. Aber auch ohne dieß können sie ihrem Schicksal nicht entgehen. Denn sobald sie das, was sie in ihrem neuen Leben seyn wollen, gewählt haben, giebt Lachesis jeder einen Dämon zu, der dafür zu sorgen hat, daß alles, was zu ihrem erwählten Loose gehört, pünktlich in Erfüllung gehe. So wird z. B. die Seele, welche sich, von der glänzenden Außenseite verblendet, die Tyrannie gewählt hatte, erst da es zu spät ist gewahr, daß sie ihre eigenen Kinder fressen, und eine Menge anderer ungeheurer Frevelthaten begehen werde; sie heult und jammert nun ganz erbärmlich, aber vergebens; ihre Wahl ist unwiederruflich, und der Dämon, unter dessen Leitung sie steht, wird nicht ermangeln, alle Umstände so zu ordnen sind zu verknüpfen, daß die Kinder gefressen und die Übelthaten begangen werden, wie groß auch der Abscheu ist, wovon sie sich itzt gegen die Erfüllung ihres Looses durchdrungen fühlt. Alle übrigen Feierlichkeiten, welche vorgehen, indem die Seelen von Lachesis zu Klotho, von Klotho zu Atropos, und sodann, unter dem Thron der Anangke vorbey, nach dem Lethäischen Gefilde abgeführt werden, können keinen andern Sinn haben, als die unvermeidliche Nothwendigkeit anzudeuten, die über ihnen waltet. Der Profet hat gut sagen, die Tugend sey herrenlos, d. i. frey und unabhängig; was kann das den armen Seelen frommen, die das Schicksal in Lagen versetzt, worin es ihnen äußerst schwer, wo nicht gar unmöglich gemacht wird, zu diesem von Wahn und Leidenschaft unabhängigen Zustand zu gelangen, der die Bedingung der Tugend ist? Plato hätte also den vermuthlichen Hauptzweck des Mährchens von dem, was der Armenier Er in der Geisterwelt gesehen, so ziemlich verfehlt; und, da überdieß seine Bilder, der Erfindung und Darstellung nach, meistens so beschaffen sind, daß keine gesunde Einbildungskraft sie ihm nachmahlen kann: so gestehe ich, wenn jemahls darüber gestimmt werden sollte, ob die Ilias und Odyssee seinen poetischen Dialogen in den Schulen Platz zu machen habe; so werde ich mit meiner Stimme die Mehrheit schwerlich auf seine Seite ziehen.

Nach dieser langen Reise, die wir machen mußten, um unserm dichterischen Mystagogen durch die verworrenen und immer wieder in sich selbst zurück kehrenden Windungen seines dialektischen Labyrinths zu folgen, ist wohl, so bald wir wieder zu Athem gekommen sind, nichts natürlicher als uns selbst zu fragen: Was für einen Zweck konnte der Mann durch dieses wunderbare Werk erreichen wollen? Für wen und zu welchem Ende hat er es uns aufgestellt? War seine Absicht, das wahre Wesen der Gerechtigkeit aufzusuchen und durch die Vergleichung mit demselben die falschen Begriffe von Recht und Unrecht, die im gemeinen Leben ohne nähere Prüfung für ächt angenommen und ausgegeben werden, der Ungültigkeit und Verwerflichkeit zu überweisen: wozu diese an sich selbst schon zu weitläufige und zum Überfluß noch mit so vielen heterogenen Verzierungen und Angebäuden überladene Republik, deren geringster Fehler ist, daß sie unter menschlichen Menschen nie realisiert werden kann? Oder war sein Zweck, uns die Idee einer vollkommenen Republik darzustellen; warum läßt er sein Werk mangelhaft und unvollendet, um unsre Aufmerksamkeit alle Augenblicke auf Nebendinge zu heften, und uns stundenlang mit Aufgaben zu beschäftigen, die nur an sehr schwachen Fäden mit der Hauptsache zusammen hangen? Arbeitete er für denkende Köpfe und war es ihm darum zu thun, die Materie von der Gerechtigkeit gründlicher als jemahls vor ihm geschehen war, zu untersuchen, wozu so viele Allegorien, Sinnbilder und Mährchen? Schrieb er für den großen leselustigen Haufen, wozu so viele spitzfündig tiefsinnige, räthselhafte, und wofern sie ja einen Sinn haben, nur den Epopten seiner filosofischen Mysterien verständliche Stellen?

Soll ich dir sagen, Eurybates, wie ich mir diese Fragen beantworte? Platon pflegt (wie ich schon oben bemerkte) mit seinem Hauptzweck immer mehrere Nebenabsichten zu verbinden und scheint sich dazu in dem vorliegenden Dialog mehr Spielraum genommen zu haben als in irgend einem andern. Daß hier sein Hauptzweck war, die im ersten und zweyten Buch aufgeworfenen Fragen über die Gerechtigkeit streng zu bestimmen und aufs Reine zu bringen, leuchtet zu stark aus dem ganzen Werk hervor, als daß ich noch ein Wort deßwegen verlieren möchte. Unläugbar hätte er dieß auf einem andern, als dem von ihm gewählten – oder vielmehr erst mit vieler Mühe gebrochenen und gebannten Wege, leichter, kürzer und gründlicher bewerkstelligen können; aber er hatte seine guten Ursachen, warum er seine Idee einer vollkommenen Republik zur Auflösung des Problems zu Hülfe nahm. Er verschaffte sich dadurch Gelegenheit, seinem von langen her gegen die Griechischen Republiken gefaßten Unwillen Luft zu machen, den heillosen Zustand derselben nach dem Leben zu schildern, und, indem er die Ursachen ihrer Unheilbarkeit entwickelt und mit mehr als Isokratischer Beredsamkeit darstellt, zugleich nebenher seine eigene Apologie gegen einen öfters gehörten Vorwurf zu machen, indem er den wahren Grund angiebt, warum er keinen Beruf in sich fühle, weder einen Platz an den Ruderbänken der Attischen Staatsgaleere auszufüllen, noch (wenn er es auch könnte), sich des Steuerruders selbst zu bemächtigen. Die Ausführlichkeit der Widerlegung des den Filosofen entgegen stehenden popularen Vorurtheils und des Beweises, »daß eine Republik nur dann gedeihen könne, wenn sie von einem ächten Filosofen, d. i. von einem Plato regiert werde, spricht laut genug davon, wie sehr ihm dieser Punkt am Herzen lag, wiewohl ich sehr zweifle, daß er mit der versteckten Apologie seiner politischen Unthätigkeit vor dem Richterstuhl der Sokratischen Moral auslangen dürfte.

Nächst diesem fällt von allen seinen Nebenzwecken keiner stärker in die Augen, als der Vorsatz, den armen Homer, dessen dichterischen Vorzügen er nichts anhaben konnte, wenigstens von der moralischen Seite (der einzigen wo er ihn verwundbar glaubt) anzufechten, und um sein so lange schon behauptetes Ansehen zu bringen. Daß er ihn aus den Schulen verbannt wissen will, ist offenbar genug; sollte er aber wirklich, wie man ihn beschuldigt, so schwach seyn, zu hoffen daß einige seiner exoterischen Dialogen, z. B. Fädon, Fädrus, Timäus und vor allen der vor uns liegende, mit der Zeit die Stelle der Ilias und Odyssee vertreten könnten? Wofern ihm dieser Argwohn Unrecht thut, so muß man wenigstens gestehen, daß er durch die episch-dramatische Form seiner Dialogen, durch die vielen eingemischten Mythen, durch das sichtbare, wiewohl öfters (besonders in dem Mährchen des Armeniers) sehr verunglückte Bestreben, mit Homer in seinen darstellenden Schilderungen zu wetteifern, und überhaupt durch seine häufigen Übergänge aus dem prosaischen in den poetischen, sogar lyrischen und dithyrambischen Stil mehr als zu viel Anlaß dazu gegeben hat. Was aber den Vorwurf betrifft, »er könne den Dialog von der Republik weder für Filosofen von Profession noch für das große Publikum geschrieben haben,« so zweifle ich, ob er anders zu beantworten ist, als wenn man annimmt, er habe dafür sorgen wollen, daß keine Art von Lesern unbefriedigt von dem geistigen Mahl aufstehe, wozu alle eingeladen sind, und wobey es mit der Menge und Verschiedenheit der Gerichte und ihrer Zubereitung gerade darauf abgesehen ist, daß jeder Gast etwas finde, das ihm angenehm und zuträglich sey.


 << zurück weiter >>