Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXV.
Lais an Aristipp.

Aber wer sagt dir denn, wunderlicher Mensch, daß ich mir nur im Traum einfallen lasse, den einzigen gesunden Kopf in ganz Griechenland verrücken zu wollen? – Und wenn ich es könnte, würdet ihr andern desto weiser seyn? Daß ihr doch alle, ohne Ausnahme, wie es scheint, gar viel dabey zu gewinnen glaubt, wenn ihr einen großen Menschen ein paar Stufen zu euch herunter ziehen könntet; als ob er nicht immer um eben so viel größer bliebe als ihr, wenn er auch auf derselben Fläche mit euch steht. Wie konntest du dir einbilden, ich werde nicht merken, warum du so ängstlich für den Ruhm meiner Reitzungen bekümmert bist? Aber sey ohne Sorgen, mein Freund! Ich mache keinen Anspruch von einem Manne, wie Sokrates, anders als nach seiner eigenen Weise geliebt zu werden, und es würde mir unendliche Mahl weniger schmeicheln, wenn ich, um sein Herz zu gewinnen, ihm vorher den Kopf verrücken müßte. Glücklicher Weise ist die Sache bereits entschieden; mein Spiel ist gewonnen, und ich bin desto besser mit mir selbst zufrieden, weil ich es ohne hetärische Winkelzüge aufrichtig und redlich gewonnen habe. Doch alles an seinem Ort und zu seiner Zeit!

Es gefällt mir hier so wohl, daß ich gute Lust habe, ein Tagebuch über meinen hiesigen Aufenthalt zu schreiben, und du sollst sehen, daß der weiseste aller Menschen keine schlechte Rolle darin spielt.

Ich lebe nun volle vierzehn Tage hier, und von diesen ist kein einziger vorbeygegangen, ohne daß ich deinen Sokrates gesehen und gesprochen hätte. Allenthalben, wo ich zu sehen bin, ist er auch; in der großen Halle, in der Akademie, im Odeon, auf dem Ziegelplatz, im Piräos, unter den Propyläen, überall wo ich hingehe, find' ich ihn immer schon da, oder bin doch gewiß, daß er wie gerufen kommen wird. Du lachst, Aristipp, daß ich so einfältig bin, etwas auf meine Rechnung zu setzen, was Sokrates schon seit vierzig Jahren alle Tage zu thun pflegt. – »Man ist es, sagst du, zu Athen gewohnt, ihn aller Orten zu sehen, wo viele Menschen zusammen kommen; und er würde gar nicht mehr bemerkt werden, wenn er nicht so viel und so laut spräche, daß man ihn wohl hören muß, man wolle oder nicht.« – Aber, mein schöner Herr, daß er mich in acht ganzen Tagen auch nicht ein einziges Mahl verfehlt haben sollte, wenn unser Zusammentreffen bloßer Zufall wäre, das sollst du mich nicht bereden! Und daß er immer nur mit mir spricht, kommt wohl auch daher, weil sonst niemand mit ihm reden mag? Und daß er, seit ich zu Athen bin, täglich ins Bad geht, und Sohlen unter die Füße bindet, und immer in seinem besten neugewalkten Mantel prangt, hat er wohl auch seit vierzig Jahren immer so gemacht? – Höre, Aristipp! ich sage dir, verkümmere mir meine Freude nicht, oder wir bleiben nicht lange gute Freunde!

Das muß ich den Athenern nachrühmen, sie betragen sich, auch seitdem der erste Taumel vorüber ist, mit vieler Urbanität und Artigkeit gegen mich und meine Grazien. Aber freylich, immer in Ungewißheit zu schweben wie ich heiße? Wer ich bin? Wo ich herkomme? Was ich zu Athen zu suchen habe? Wie lange ich bleiben werde? Wie es mir da gefällt? – und einander über alle diese Fragen keine Antwort geben zu können, ist mehr als man einem so lebhaften und wißbegierigen Volke zumuthen kann. Über den letzten Punkt erhalten sie zwar bey jeder Gelegenheit die verbindlichsten Erklärungen; aber über alles übrige mußten sie sich einige Tage mit der allgemeinen Nachricht, die sie von meinen Leuten in größtem Vertrauen erhielten, behelfen: daß wir sehr weit herkämen, daß ich mich eines Gelübdes gegen die große Göttermutter von Berecynth zu entledigen hätte, und daß ich nach Athen gekommen sey, weil ja niemand sagen könnte, er habe etwas sehenswürdiges in seinem Leben gesehen, wenn er Athen nicht gesehen hätte. Damit kamen wir nun etliche Tage so ziemlich aus: aber wie das Aufsehen, das ich gegen meine Absicht erregte, immer auffallender wurde; wie man überall von nichts als der schönen Unbekannten sprach, und tausenderley lächerliche Sagen, Vermuthungen und Hypothesen über sie herumliefen, fanden endlich die Gynäkonomen für nöthig, ihr Amt zu verrichten, und sich etwas näher, wiewohl sehr manierlich, nach meinem Nahmen und Stande zu erkundigen. Um ihrer recht bald und mit eben so guter Manier los zu werden, fiel mir in der Eile nichts bessers ein, als mich (mit deiner vorausgesetzten Erlaubniß) für eine Cyrenerin, Nahmens Anaximandra, eine Verwandte von Aristipp, Aritadessohn, auszugeben, die, wegen der neulich zu Cyrene ausgebrochnen Unruhen, für gut gefunden hätte, auszuwandern, und sich bis zur Wiederherstellung der Ordnung in ihrer Vaterstadt in Griechenland aufzuhalten. Die Herren zogen sich nach Empfang dieser Auskunft mit allem möglichen Atticism wieder zurück, und seitdem begegnet mir, wie mich dünkt, jedermann mit verdoppelter Aufmerksamkeit und Achtung; so groß ist der Kredit, in welchen mein neuer Vetter die Stadt Cyrene bey den guten Kechenäern gesetzt hat. Du kannst dir leicht vorstellen, daß ich mich, um meinen neuen Nahmen und Stand gehörig zu behaupten, bey meinem Verehrer Sokrates nach dir erkundigen mußte. Um dich weder zu stolz noch zu demüthig zu machen, will ich dir nicht wieder sagen, was er von dir urtheilt. Genug, ich sagte ihm: da du, bey vielen Fähigkeiten und guten Eigenschaften, von etwas leichtem Sinne wärest, und das Vergnügen vielleicht etwas mehr liebtest, als einem edeln emporstrebenden Jünglinge zuträglich sey, so hätte die Familie geglaubt nicht besser thun zu können, als wenn sie dir auf einige Zeit das Glück, um Sokrates zu seyn, verschaffte; – und Er versicherte mich dagegen, die Schuld werde nicht an ihm liegen, wenn die gute Absicht deiner edeln Familie verfehlt werden sollte. Das laß dir gesagt seyn, Vetter Aristipp!

Wenn ich Lust hätte, dem guten Willen der Attischen Jugend von der ersten Klasse, und den übel verhehlten kleinen Entwürfen ihrer Väter, einige Aufmunterung zu geben, so würde mein Aufenthalt zu Athen eine Kette von Lustpartien, Gastmählern und Vergnügungen aller Gattung seyn. Die allgemeine Schwärmerey, die meine Erscheinung erregte, ging Anfangs so weit, daß ich sogar einem Freunde nicht ohne Unbescheidenheit davon sprechen kann. Ich glaube, wenn ich mit meinen drey Grazien gerades Weges vom Tempel der Afrodite Besitz genommen hätte, niemand würde mir das Recht dazu streitig gemacht haben. Dieser Grad von Berauschung konnte natürlicher Weise von keiner langen Dauer seyn: dagegen hat der Wetteifer sich um mich verdient zu machen, bey allen, die sich durch persönliche oder angeerbte Vorzüge dazu berechtigt halten, eher zu- als abgenommen. Aber ich entziehe mich den Wirkungen desselben so viel möglich, und bleibe meinem Plan getreu. Des Sokrates wegen bin ich nach Athen gekommen, und ihm vorzüglich soll die Zeit meines Hierbleibens gewidmet seyn. Ich habe mir alle Einladungen in die Häuser meiner Verehrer verbeten, und sehe, außer an öffentlichen Orten, keine Gesellschaft als in meiner eigenen Wohnung. Denn ich habe durch Vermittlung deines Freundes Eurybates (der mir die strengste Verschwiegenheit versprochen hat) ein ganz artiges kleines Haus mit einem geräumigen Sahle gemiethet, wo sich alle Abende eine auserlesene Gesellschaft von ältern Freunden des Sokrates einfindet, unter welchen er selbst nur selten fehlt. Die jüngern sind (zu großer Unlust des schönen Fädrus, meines erklärten Anbeters) ohne Barmherzigkeit ausgeschlossen. Ich wollte, du könntest sehen, wie hübsch ich mich als Wirthin mitten unter einer Gesellschaft von sechs oder acht weisen Männern ausnehme, von denen der jüngste seine funfzig Jahre auf dem Rücken hat; und wie stolz würdest du erst auf deine neue Base seyn, wenn du sie mit solchen Antagonisten über das selbstständige Schöne und Gute, über den Grund des Rechten, über das höchste Gut und über die vollkommenste Republik ganze Abende lang disputieren hörtest, und bemerktest, mit welcher Natur oder Kunst (wie du willst) sie diesen spröden Materien ihre Trockenheit zu benehmen, und die graubärtigen Streithähne selbst in gebührender Zucht und Ordnung zu erhalten weiß. Aber freylich darf uns dann die Hauptperson nicht fehlen; er, dessen scharfer Blick, treffender Witz und muntre Laune ihn zur Seele unsrer Gesellschaft macht. Der undankbarste Stoff wird unter seinen Händen reichhaltig, und die scherzhafte sympotische Manier, womit er die subtilsten Probleme der Moral und Menschenkunde zu unterhaltenden Tischgesprächen zuzurichten weiß, scheint die verwickeltsten Knoten oft feiner, wenigstens immer zu größerm Vergnügen der Zuhörer, zu lösen, als durch eine ernsthaftere und schulgerechtere Analyse geschehen würde. Aber Ehre dem Ehre gebührt! Die schöne Anaximandra thut natürlicher Weise ihre Wirkung, und seine ältesten Freunde versichern mich, daß sie ihn in seinem ganzen Leben nie so aufgeräumt und jovialisch gesehen haben, als – seit dem Tage meiner Ankunft in Athen. Nenn' es nun und erkläre dirs wie du willst; ich streite nie um Worte, aber du wirst mir erlauben, daß ich mich an die Erklärung halte, die für meine Eigenliebe die schmeichelhafteste ist.

Ich gefalle mir so wohl zu Athen, daß ich, wenn mir Eurybates reinen Mund hält, und nicht etwa ein neidischer Dämon mir jemand, der mich zu Korinth gekannt hat, in den Weg wirft, große Lust habe, meinen Aufenthalt noch um mehrere Tage zu verlängern.

Mein geheimes Liebesverständniß mit dem alten Spötter (denn bis zu Erklärungen über einen so zarten und unaussprechlichen Gegenstand ist es zwischen uns noch nicht gekommen) geht noch immer seinen Gang, und ich schließe aus dem Vergnügen, das ich an seinem Umgang finde, daß ihm der meinige wenigstens eben so angenehm seyn müsse. Wiewohl er eine Aspasia gekannt hat, glaube ich doch etwas Neues für ihn zu seyn; und bey aller seiner anscheinenden Beschränktheit, hat vielleicht kein Sterblicher jemahls eine allgemeinere Empfänglichkeit und einen reinern Sinn für alles Menschliche gehabt als er.


 << zurück weiter >>