Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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XII.
An Ebendenselben.

Es fehlt viel daran, lieber Demokles, daß mir die Nachrichten von dem immer wahrscheinlicher werdenden Erfolg der Anschläge meines Verwandten, die du mir durch den Schiffer von Gortyna zugefertiget hast, so angenehm wären, als du zu glauben scheinst. Sie würden es auch dann nicht seyn, wenn ich nicht voraus sähe, daß meiner Familie vielleicht kein größeres Unglück zustoßen könnte, als wenn Ariston in seinem Unternehmen glücklich wäre. Denn wie lange glaubst du wohl, daß die willkührliche Regierung eines jungen Schwindelkopfes dauern würde, der sich selbst nicht zu regieren weiß, und immer das Spielzeug seiner eigenen und fremder Leidenschaften ist? Ich beklage es, daß mein Bruder, durch täuschende Aussichten verblendet, seine Partey so eifrig zu unterstützen scheint, daß, wenn die kurze Herrlichkeit vorüber seyn wird, sein Fall nothwendig auch der ihrige seyn muß. Laß michs wiederhohlen, mein Freund, um unsre Republik vor einer unabsehbaren Reihe unseliger Folgen der gegenwärtigen Störung ihres innern Gleichgewichtes zu retten, ist kein anderes Mittel als eine neue Regierungsform: und dieß vorausgesetzt, fordere ich alle Weisen unter Griechen und Barbaren heraus, in diesem Augenblick eine bessere für euch zu ersinnen, als die Solonische unter der Bedingung, deren ich neulich erwähnte; wenn ihr euch nehmlich von freyen Stücken entschlösset, unter den vier Ehrgeitzigen, die einander die Tyrannie über Cyrene streitig machen, den tauglichsten, d. i. den, der den besten Kopf mit der meisten Stärke des Karakters vereiniget, an die Spitze der Republik zu stellen. Da du, wie ich aus deiner Antwort sehe, meine Meinung nicht ganz gefaßt zu haben scheinst, so erlaube mir, mich über diesen Punkt deutlicher zu erklären.

Als die Athener nach dem Tode des edelmüthigen Kodrus beschlossen, daß Jupiter allein würdig sey, der Nachfolger eines solchen Königs zu seyn, gingen sie nicht plötzlich zu einer demokratischen Verfassung über. Die Republik wurde von einem Archon regiert, welcher anfänglich auf Lebenslang, hernach auf zehen Jahre mit dieser höchsten Würde bekleidet wurde: und auch, nachdem man in der Folge für besser hielt, die Verrichtungen derselben unter neun jährliche Archonten zu vertheilen, war die Verfassung zu Solons Zeiten noch immer aristokratisch. Das Volk schmachtete unter dem Druck der vornehmen und reichen Familien, in deren Händen die ganze Staatsverwaltung lag, und selbst die blutigen Gesetze Drakons scheinen einen aristokratischen Geist zu athmen, und dahin abgezielt zu haben, durch ihre furchtbare Strenge dieser Regierungsform eine ewige Dauer zu verschaffen. Natürlicher Weise erfolgte das Gegentheil. Das zur Verzweiflung getriebene Volk fühlte endlich seine Stärke; die Republik zerfiel in Parteyen; jede hatte einen mächtigen Aristokraten an der Spitze, dessen wahre Absicht wohl keine andere war, als sich seines Anhangs zu Überwältigung der übrigen zu bedienen, und sich zum einzigen Stellvertreter des Königs Jupiter zu erklären. In dieser Lage der Sachen fand Solon in dem allgemeinen Vertrauen auf seine Weisheit ein Mittel, alle Parteyen zu vereinigen. Man bevollmächtigte ihn, nicht nur die alten Gesetze zu verbessern, sondern auch (was alle Parteyen für das nöthigste hielten) der Republik selbst eine neue Verfassung zu geben. Ein so weiser Mann, wie Solon, konnte, da er selbst ohne Ehrgeitz war, unmöglich auf den Gedanken fallen, daß den Gebrechen der Aristokratie abgeholfen wäre, wenn er eine reine Demokratie an ihre Stelle setzte: er war bloß darauf bedacht, die Republik durch Vertheilung der Gewalten unter die Archonten, den Areopagus, einen Senat von vier hundert, und die Volksgemeine, dergestalt zu ordnen, daß er sich eine dauerhafte Harmonie des Ganzen davon versprechen konnte. Indessen bewies der Erfolg in wenig Jahren, daß seine neue Staatseinrichtung mit Einem Gebrechen behaftet war, welchem hätte vorgebeugt werden können, wenn er etwas weiter vor sich hinausgesehen, und der momentanen Stimmung des Volkes auf der einen, und der verstellten Mäßigung der ehmaligen Oligarchen auf der andern Seite, nicht zu viel getraut hätte. Das Volk nehmlich war durch die plötzliche Befreyung von den bisherigen Bedrückungen und die Aussicht auf die Vortheile, die es von der Solonischen Gesetzgebung mit Recht erwartete, so zufrieden gestellt, daß es sich mit dem sehr beschränkten Antheil an der Staatsverwaltung, der ihm durch dieselbe eingeräumt wurde, vor der Hand willig abfinden ließ: auf der andern Seite sahen die Ehrgeitzigen, die es während der Unruhen auf Alleinherrschaft angelegt hatten, daß sie die Ausführung ihrer Anschläge auf einen günstigern Zeitpunkt verschieben müßten. Aber Solon hätte billig unbefangen genug seyn sollen, vorauszusehen, daß weder die untern Volksklassen noch die Häupter der mächtigsten Familien sich in den Schranken, worein er sie eingeschlossen hatte, lange halten lassen würden; und daß er also, um der Ruhe des Staats Dauer zu verschaffen, auf ein haltbares Mittel bedacht seyn müsse, den einen und den andern jede Ausdehnung ihrer politischen Rechte unmöglich zu machen. Dieses Mittel würde er in einem Eparchen (oder wie man ihn sonst nennen wollte) gefunden haben, dem die Konstituzion nicht mehr, aber auch nicht weniger Macht in die Hände gegeben hätte, als erfordert wurde, um das Volk durch die Aristokratie, die Aristokratie durch das Volk, und beide durch die Allmacht des Gesetzes in ihren Schranken zu erhalten. Der Einwurf, »die Athener hätten das Nachtheilige eines solchen Vorstehers an den ehmahligen lebenslänglichen Archonten bereits erfahren,« wäre von keiner Erheblichkeit gewesen. Das Nachtheilige lag bloß darin, daß die Gewalt der ersten Archonten zu unbestimmt und zu willkührlich war: denn im Grunde stellten sie eine Art von Königen unter einem andern Nahmen vor. Aber dieß würde bey meinem Eparchen der Fall nicht geesen seyn, da er durch den aristokratischen Areopagus, den aus den drey ersten Bürgerklassen gezogenen Senat der Vierhundert, und die allgemeinen Volksversammlungen gesetzmäßig beschränkt gewesen wäre, und diese drey Gewalten einander (wie es ihr Interesse erforderte) mit gehörigem Nachdruck unterstützt haben würden. Jeder Versuch des Eparchen, sich über die Gesetze wegzuschwingen und unabhängig zu machen, hätte nothwendig mißlingen müssen. Wie gut und wie nöthig es gewesen wäre, daß Solon seinem übrigens so verständig angelegten Staatsgebäude diesen Gipfel aufgesetzt hätte, zeigte sich nach seiner Entfernung nur zu bald. In wenig Jahren wachten die alten Fakzionen wieder auf; Lykurgus bearbeitete die mittlern Bürgerklassen, Megakles die Aristokraten, Pisistratus das gemeine Volk; weder Solon noch seine Gesetze konnten dem überhand nehmenden Übel wehren; kurz, es bedurfte der Alleinherrschaft des Pisistratus, der zuletzt die Oberhand behielt, Ordnung und Ruhe wieder herzustellen, und die Gesetze Solons wieder in Wirksamkeit zu setzen.

Ich hoffe nun, Freund Demokles, dir meine Gedanken über das, was in den dermahligen Umständen zum Besten unsrer Vaterstadt gethan werden könnte, durch dieses so genau auf unsre Umstände passende Beyspiel einleuchtend genug gemacht zu haben, um dich von selbst auf die Betrachtungen zu leiten, die ich deiner anscheinenden Vorliebe für die reine Demokratie entgegen stellen könnte, wenn ich ein Freund dieser Art von Kämpfen wäre, wo man Stirn an Stirn, und Knie an Knie mit dem andern um seine Meinung ringt, oder wenn ich sie für eine gute Art, jemand von seiner Meinung zurück zu bringen, hielte. Zudem würde auch ein solcher Streit in diesem Augenblick ein wahres Schattengefecht seyn. Denn nach allem, was du mir berichtest, zu urtheilen, würde, wenn auch du und deine Freunde euch thätig für die Demokratie erklären wolltet, schwerlich zu hoffen seyn, daß ihr eine Partey zusammen bringen könntet, die nur jeder einzelnen der bestehenden Gegenparteyen, geschweige allen zusammen, die Spitze zu bieten vermöchte. Und gewiß würden diese sogleich gemeine Sache gegen jeden machen, der sich nur den leisesten Verdacht zuzöge, als ob er mit einem solchen Anschlage umgehe. Hingegen müßte ich mich sehr betrügen, wenn mein Vorschlag nicht noch durchzusetzen wäre, wofern die redlichen Freunde des Vaterlandes und der Freyheit mit gehöriger Mäßigung und Klugheit zu Werke gingen, und sich zu rechter Zeit für denjenigen erklärten, der sich an der höchsten Würde im Staat unter den Einschränkungen der Solonischen Konstituzion genügen lassen wollte.

Ich habe meinen Verwandten ausführlich und nachdrücklich über diese Sache geschrieben; aber ich gestehe, daß ich mir wenig Erfolg davon verspreche. Auf alle Fälle hab' ich das meinige gethan, vielleicht mehr als von einem noch nicht volljährigen Staatsbürger gefordert werden kann. Geschehe nun was die Götter über uns beschlossen haben, oder – um den guten Göttern kein Unrecht zu thun – was von dem allgewaltigen Einfluß der beiden großen Regenten unsers wetterlaunischen Planeten, der Thorheit, die uns von innen, und dem Zufall, der uns von außen beherrscht, vernünftiger Weise zu erwarten ist. Es wäre viel Glück, wenn wir, indem wir so blindlings in den Glückstopf des Schicksals greifen, gerade das beste Loos heraus zögen. Ich für meine Person bin auf alles gefaßt, und falls ich dahin kommen sollte, wie Bias alles, was ich mein nennen kann, bey mir zu tragen, so tröste ich mich damit, daß ich wenigstens nicht schwer zu tragen haben werde.


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