Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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Alles in der Welt muß endlich ein Ende nehmen; und so erinnert sich auch unser Sokrates, dem der Gaumen vermuthlich trocken zu werden anfängt, daß die Rede in diesem Gespräch eigentlich nicht von Dichtern und nachahmenden Künstlern, sondern von dem wahren Karakter der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit habe seyn sollen, und von den Wirkungen, welche die eine und die andere in einer von ihr beherrschten Seele hervorbringt. Er lenkt also mit einer ziemlich raschen Wendung wieder in den Weg ein, aus dem er schon so oft ausgetreten ist; und so bald er sich und seine Zuhörer orientiert hat, zeigt sichs, daß ihm, nachdem er den Beweis,

»daß die Gerechtigkeit an und durch sich selbst das beste und edelste Besitzthum der an und in sich selbst betrachteten Seele sey, und daß man also, ohne alle Rücksicht auf Vortheil und Lohn, immer gerecht handeln müsse, man besitze den Ring des Gyges oder nicht;«

gegen die Behauptungen des von Glaukon und Adimanth unterstützten Thrasymachus, aufs vollständigste und bündigste geführt zu haben vermeint, nun nichts übrig sey, als der Gerechtigkeit selbst – Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, »ihr Alles, was er ihr zum Behuf jenes Beweises nehmen müssen, wieder zu geben, und sie wieder in den vollen Besitz aller Belohnungen einzusetzen, welche die Tugend einer Seele bey Göttern und Menschen im Leben und nach dem Tode verschaffe.«

Dieß ist es nun, womit er sich im Rest dieses letzten Buchs beschäftigt. Nachdem er nehmlich die unendlichen Vortheile des Gerechten oder Tugendhaften vor dem Lasterhaften oder Ungerechten, selbst in bloßer Rücksicht auf die Belohnungen, welche jener, und die Strafen, welche dieser von Göttern und Menschen schon in diesem Leben zu gewarten habe, mit beständiger Rücksicht auf die gegentheiligen Behauptungen des Thrasymachus und seiner Gehülfen, kürzlich dargethan hat, und Glaukon von der Menge und Größe jener Vortheile des Gerechten überzeugt zu seyn versichert, fährt Sokrates fort: das alles sey doch Nichts gegen das, was auf Beide nach ihrem Tode warte, und es werde zur Vollständigkeit seiner Überzeugung nöthig seyn zu hören, was er ihm hiervon zu sagen bereit sey. Glaukon, der sich nach einer solchen Äußerung auf wundervolle Dinge gefaßt macht, versichert, daß er, wie lang' es auch währen möchte, mit Vergnügen zuhören werde; und so folgt denn eine sehr umständliche Erzählung des Berichts, den ein gewisser Armenier Nahmens Er, als er, am zwölften Tage nach seinem Tode, auf dem Scheiterhaufen worauf sein unversehrt gebliebener Leichnam verbrannt werden sollte, wieder ins Leben zurück gekehrt, von den erstaunlichen Dingen, die er in der andern Welt gesehen und gehört, öffentlich abgestattet habe. Da diese Erzählung, über deren Quelle uns Plato in gänzlicher Unwissenheit läßt, keinen Auszug gestattet, und ich nicht zweifle, daß sie eines von den einzelnen Stücken dieses Dialogs ist, die du mit gebührender Aufmerksamkeit gelesen hast, so begnüge ich mich, bloß ein paar Anmerkungen beyzufügen, welche nicht sowohl dem Mährchen selbst, als dem erhabenen Dichter, der uns damit beschenkt hat, gelten sollen.

Natürlicher Weise können uns aus der andern Welt keine Nachrichten zugehen, als durch Personen, welche dort gewesen und wieder zurück gekommen sind. Die fabelhafte Geschichte nennt, meines Wissens, außer Theseus, Peirithous, Herkules und dem Homerischen Odysseus, welche lebendig in den Hades hinabgestiegen und wieder herauf gekommen, nur drey Todte – den zwischen Afrodite und Persefone getheilten Adonis, die Alcestis, und den schönen Protesilaus – denen ins Leben zurück zu kehren erlaubt worden, wiewohl dem letzten nur auf einen einzigen Tag. Plato dichtet also nichts unerhörtes, indem er den Armenier Er aus der andern Welt zurück kommen läßt; aber da dieser Er von den Richtern, welche am Eingang den neu angekommenen Seelen ihr Urtheil sprechen, ausdrücklich deßwegen ins Leben zurück geschickt wird, um uns andern Bewohnern der Oberwelt von den Belohnungen und Strafen, die uns nach dem Tode erwarten, zuverlässige Nachrichten zu geben; so erforderte, sollte man denken, ein so wichtiger Zweck, daß der Dichter einige Sorge dafür getragen hätte, daß wenigstens ein Anschein von Möglichkeit das Ungereimte der Sache unserm ersten Blick entzöge. Je unglaublicher eine Dichtung an sich selbst ist, desto nöthiger ist es, unsre Einbildungskraft dadurch zu gewinnen, daß alle das Wunderding umgebende Umstände in der natürlichen Ordnung der Dinge sind. Wir wollen uns gern gefallen lassen, daß Er aus der andern Welt zurück kommt, zumahl wenn er uns recht viel hörenswürdiges aus ihr zu erzählen hat: aber was wir uns nicht gefallen lassen können, ist, daß der Dichter nicht an die gänzliche Unmöglichkeit gedacht hat, daß der entseelte Leichnam eines an tödtlichen Wunden verstorbenen Menschen, nachdem er zehen Tage lang unter einem Haufen anderer bereits in Fäulniß gegangenen Leichen gelegen, unversehrt hervor gezogen werde, und am zwölften Tage bey Wiedervereinigung mit seiner Seele sich so frisch und gesund befinde, als ob ihm kein Haar gekrümmt worden wäre.


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